Vergissmichnicht
dass der Mord etwas damit zu tun hat, dass deine Mutter dich damals weggegeben hat.«
Stefanie, die ihren Kopf an seine Schulter gelegt hatte, richtete sich bei seinen Worten erschrocken auf und sah ihren Gatten mit großen Augen von der Seite an. »Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte sie. »Glaubst du wirklich?«
»Ich halte es zumindest für möglich«, meinte Andreas. »Ich glaube, dass es in deiner Familie ein tragisches Geheimnis gibt, das keiner außer deiner Mutter, deiner Großmutter und deinem Vater, pardon, deinem Großvater, kannte … Außer dem See vielleicht. Dem haben die Menschen im Laufe der Jahrhunderte wohl viele Geheimnisse anvertraut.« Er brach ab, als ihm bewusst wurde, dass seine Frau ihn schweigend anstarrte. »Was ist? Was hast du?«
»Mein Vater«, flüsterte Stefanie tonlos. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht.«
»Was?«, fragte Andreas verwirrt.
»Na, dass mein Vater dann ja nicht mein Vater, sondern mein Großvater war. Und dass ich noch irgendwo einen Vater haben muss, der vielleicht gar nichts von mir weiß.« Sie sprang auf. »Ich muss ihn finden, Andreas«, sagte sie atemlos.
»Wie willst du das denn anstellen?«
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Stefanie. »Aber ich werde ihn finden. Verlass dich drauf.« Sie blickte aus dem Fenster. »Gehen wir ein bisschen spazieren? Ich brauche etwas frische Luft und das Wetter ist so schön draußen. Und nächste Woche holen wir dann auch die Kinder wieder zu uns. Es wird Zeit, dass der Alltag wieder einkehrt.«
Andreas stand auf, froh und zugleich besorgt über den plötzlichen Stimmungswandel seiner Frau. Eine Woche lang hatte Stefanie kaum ein Wort gesagt. Der Wechsel kam ihm zu überraschend, zu plötzlich. Wie auch immer: Der Spaziergang konnte sicher nicht schaden und auch die Idee, die Kinder zurückzuholen war bestimmt nicht verkehrt.
Stefanie lächelte ihrem Mann zu und warf einen letzten Blick auf die Zeitung und auf das Foto von Wolfgang Gruber. Nicht ahnend, dass es das Gesicht ihres Vaters war, in das sie da blickte. Und dass er schuld an allem Unheil und allem Leid war.
Neununddreißigstes Kapitel
Überlingen
Keuchend rannte Alexandra die Stufen zum Überlinger Polizeirevier empor. »Ich muss mit Frau Grundel sprechen! Sofort!«, keuchte sie. »Langsam, langsam, junge Frau«, sagte der diensthabende Polizist am Schalter wichtig. »Für Presseanfragen ist der Pressesprecher oder der Überlinger Polizeichef zuständig. Heute ist Sonntag, beide sind nicht da. Kommen Sie morgen wieder.«
Er hatte sie offensichtlich erkannt. Was kein Wunder war, ihr Foto war neben ihrem Bericht über den Mord an Elisabeth Meierle veröffentlicht worden.
»Hören Sie, ich stehe hier nicht als Journalistin, sondern als Zeugin in einem Mordfall«, sagte sie scharf. »Und als solche verlange ich, sofort mit der ermittelnden Beamtin sprechen zu können.«
»Was Ihnen erst eine Woche nach dem Mord einfällt, hat Zeit bis morgen«, pampte der Beamte. »Wir haben heute wirklich andere Sorgen.«
»Ach ja?«, fragte Alexandra. »Meinen Sie mit diesen Sorgen etwa Ole Strobehn?«
»Woher …«, setzte der Beamte an, unterbrach sich dann und sagte barsch: »Das geht Sie überhaupt nichts an. Und jetzt verschwinden Sie endlich und lassen uns hier unsere Arbeit tun.«
»Das geht mich sehr wohl etwas an!«, schrie Alexandra, die den Kampf um die viel gelobte Contenance nun endgültig verloren hatte. »Ich habe sachdienliche Hinweise, die Ihnen bei der Suche nach Ole Strobehn weiterhelfen können. Und wenn Sie mich jetzt nicht sofort zu Frau Grundel lassen oder mir sagen wo ich sie erreichen kann, dann werde ich mich morgen bei Ihrem Chef über Sie beschweren. Ich glaube nicht, dass er es lustig findet, wenn er erfährt, wie Sie hier mit Zeugen in einem Mordfall umgehen, die noch dazu das Leben eines gefährdeten Kollegen retten könnten.«
Mit versteinerter Miene verschwand der Beamte hinter der Glasscheibe und tauchte im nächsten Moment hinter der bisher verschlossenen weißen Türe auf, die vom Empfangsraum zu den Büros der Polizisten führte. »Folgen Sie mir«, sagte er und führte Alexandra in das Büro im ersten Stock. »Frau Grundel, entschuldigen Sie die Störung. Da ist eine Dame, die Sie unbedingt sprechen möchte«, meldete der Beamte mit deutlicher Missbilligung in der Stimme.
»Jetzt nicht«, fauchte Monja Grundel. »Sie sehen doch, was hier los ist.«
Alexandra schob sich an dem breiten Rücken des
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