Vergissmichnicht
weißen Bluse. Beides war reichlich zerknittert, aber sie hatte keine Zeit, sich umzuziehen. Sie musste so schnell wie möglich herausfinden, was mit Ole war. Außerdem bestand die Gefahr, dass Ralf es sich anders überlegte, wenn sie zu lange brauchte. Sie staunte ohnehin darüber, wie einfach es gewesen war, ihn zum Ausgehen zu überreden. Also griff sie rasch nach ihrer Haarbürste, fuhr ein paar Mal über das stark verknotete Haar und spritzte sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht. Das musste reichen.
»Fertig«, sagte sie zu Ralf, der schon im Flur auf sie wartete. »Wir können.« Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn die Treppenstufen hinunter und aus dem Haus. Als sie unten auf dem Münsterplatz angekommen waren, atmete sie erleichtert auf. Sie war der häuslichen Falle entkommen, das war erst mal das Wichtigste. Jetzt galt es nur noch, einen Streifenwagen zu finden. Dann würde sie sich von Ralf losreißen und sich Hilfe suchend an die Beamten im Streifenwagen wenden. Sie würde ihnen erzählen, dass sie Oles Freundin war, sich Sorgen machte und dass er etwas wusste, was ihn in ernste Gefahr bringen konnte. Wenn Ole tatsächlich etwas zugestoßen war, dann würden die Beamten sofort reagieren.
Hand in Hand ging sie mit Ralf zum Landungsplatz, wo öfters Streifenwagen standen. War der Landungsplatz im ansonsten recht friedlichen Überlingen doch der Platz, an dem es immer wieder zu Prügeleien zwischen alkoholisierten Jugendlichen kam. Doch sie hatte Pech: Es war kein Polizist zu sehen. Kein Wunder eigentlich. Schließlich war es nicht Samstagnacht, sondern helllichter Tag. Und da kamen Auseinandersetzungen, die die Anwesenheit der Polizei erforderten, doch eher selten vor. Alexandra fluchte innerlich. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr Plan B funktionierte. Es war ihre einzige Chance, wenn sie sich nicht, wild um Hilfe schreiend, von Ralf losreißen und damit die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen wollte.
Ralf und sie nahmen draußen vor dem Café in der Greth Platz. Es war ein sonniger Sonntag und damit viel Betrieb. Zum ersten Mal in ihrem Leben dankte Alexandra dem lieben Gott für ihre schwache Blase. Ralf war es nach den zwei Jahren ihrer Beziehung gewohnt, dass sie ständig zur Toilette rannte. »Ich muss schon wieder«, flüsterte sie ihm zu. »Du kennst mich ja.«
»Klar, meine Süße, ich kenne dich«, schmunzelte Ralf und gab ihr einen feuchten Kuss in die Halsbeuge.
»Bestellst du schon mal Champagner für uns? Ich bin gleich wieder da. Aber nicht weglaufen.« Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Sie hatte die Bewegung in letzter Sekunde umgelenkt, eigentlich hatte sie die Stelle, an der Ralfs Lippen ihren Hals berührt hatten, sauber wischen wollen.
Ralf grinste. »Ich würde zur Not mein ganzes Leben auf dich warten«, sülzte er.
Alexandra ging nach drinnen und dankte Gott zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit. Dieses Mal dafür, dass der Weg zur Toilette recht weit war. Man musste das Lokal verlassen und in den ersten Stock gehen, wo sich die Toiletten neben einem Geschäft befanden, in dem die wunderschönsten Accessoires verkauft wurden. Ralf würde sich also nicht wundern, wenn sie eine Weile brauchte. Es würde dauern, bis er begriff, dass sie nicht wiederkam, und begann, sie zu suchen. Das Café hatte noch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Es hatte mehrere Ausgänge. Ralf befand sich draußen auf der Südseite. Der Haupteingang lag auf der Westseite und da er ziemlich am Rand der Sonnenterrasse saß, bestand die Gefahr, dass er sie sah, wenn sie das Gebäude durch den Haupteingang verließ. Doch vom Café aus konnte man durch eine Schiebetüre auch die danebenliegende Markthalle betreten, die sonntags glücklicherweise geöffnet hatte, und das Greth-Haus von dort aus über die Nordseite verlassen, die der Hofstatt zugewandt war. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter. Ralf war ihr nicht gefolgt. Sie schlüpfte in die Markthalle und von dort aus nach draußen. Und dann begann sie zu rennen: in Richtung Osten. In Richtung Redaktion und Polizeirevier.
Achtunddreißigstes Kapitel
Villingen-Schwenningen
Zum ersten Mal, seit sie vom schrecklichen Tod ihrer vermeintlichen Mutter erfahren hatte, fühlte Stefanie wieder einen Hauch von Leben in sich. Sie schob die Decken beiseite, die sich mittlerweile viel zu schwer und zu heiß anfühlten, und erhob sich von dem großen, hellgrauen Ecksofa, auf dem sie in den letzten Tagen die meiste Zeit verbracht
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