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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
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Viertel zogen. Und außerdem finde ich es ziemlich makaber, sagte sie, in dem Haus zu wohnen, in dem Mama gestorben ist. Für mich war es immer ein Schock, sie so reden zu hören, obwohl ich mir selbst ausgedacht hatte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt in unserem Bett gestorben sei. Anfangs hielt ich das für eine gute Geschichte und glaubte, sie könne in meiner Tochter Selbstbewusstsein wecken und gleichzeitig ihrer Mutter einen triumphalen Abgang verschaffen. Früher oder später würde ich sie aufklären müssen, doch das schob ich vor mir her, und Maria Eulália wuchs nicht nur in festem Glauben an meine fromme Lüge auf, sondern schmückte sie auch noch auf eigene Faust aus. Ich sehe vor mir, wie ihre Schulkameradinnen im Lyzeum sich ihr Lachen verkniffen, wenn sie von den Krankenschwestern erzählte, die hektisch hin und her liefen, vom Geburtshelfer, der sich die Haare raufte, und von der Mutter, die sich mit Schaum vor dem Mund in Krämpfen wand und zu Gott flehte, er möge das Kind retten. Heute denke ich bei mir, dass Maria Eulália selbst nicht richtig an das glaubte, was sie sagte, von der toten Mutter sprechen kam einer Beschwörung gleich, es war wie dreimal auf Holz klopfen. Ich glaube, dass sie jeden Tag die Schultreppe mit weichen Knien herunterkam, verängstigt von der Vorstellung, eine bußfertige Mutter könnte plötzlich vor ihr stehen. Vor aller Welt von einer in Tränen aufgelösten Mutter empfangen zu werden wäre für sie eine größere Schmach, als wenn ein armer Verwandter in Bastsandalen sie abholte. Aus dem Schulgebäude herauszukommen war für ihre Kameradinnen im letzten Jahr ein Fest, denn sie stolzierten im Vestibül auf hohen Absätzen vor ihren Freunden und Prätendenten. Doch der Begehrteste unter ihnen, weil schon ein erwachsener Mann, Freund von Baronen und Kompagnon von Bankiers, fühlte sich aus unerklärlichen Gründen zu dem jungen Mädchen hingezogen, das mit gesenktem Kopf an der Wand entlangschlich. Amerigo Palumba begann, Maria Eulália in seinem Cabrio nach Hause zu fahren, er rezitierte italienische Dichter und schenkte ihr ein Buch mit dem Titel
Cuore
. Da sie nicht wusste, mit welchen Worten sie sich revanchieren sollte, erzählte sie ihm eines Tages schrecklich verlegen die einzige schöne Geschichte, die sie kannte. Und nachdem sie die letzten Momente der Eklampsie, das krampfverzerrte Gesicht, die vor Entsetzen geweiteten Augen der Mutter beschrieben hatte, wurde sie mit ihrem ersten Kuss auf den Mund getröstet. Ein einfühlsamer Mann, sagte sie zu mir, das musst du sehen, wie einfühlsam er ist. Selbst nach der Hochzeit überhäufte Palumba sie jedes Mal mit Zärtlichkeit, wenn sie an ihre Geschichte dachte, und in einem solchen trauten Moment muss Eulalinho gezeugt worden sein. Doch kaum war die Villa verkauft, brannte der Spaghettifresser mit der Beute durch, und Maria Eulália weigerte sich zu glauben, dass sie auf eine so gemeine Tour abgelegt worden war. Sie wollte lieber als unehrliche Ehefrau dastehen, lieber glauben, er habe sich abgesetzt, weil er ihr nicht mehr vertraute, da sie ihn von Anfang an mit Phantasiegeschichten hinters Licht geführt habe. Sie war überzeugt, ihm sei das in ihrer Schulzeit umgehende Gerücht zu Ohren gekommen, dem zufolge ihre Mutter keineswegs an Eklampsie gestorben, sondern von zu Hause weggelaufen sei und einen Schlappschwanz von Ehemann und einen Säugling zurückgelassen habe. Ach was, mein Kind, ach was, sagte ich mit einer Zigarette im Mund und suchte nach Streichhölzern. Sie zweifelte auch nicht mehr daran, dass Amerigo vor der Haustür Matilde persönlich gesehen hatte, sie argwöhnte, dass ihre Mutter um ihr Stadtpalais am Berghang in Flamengo herumschlich, so wie sie ihr früher vor der Schule aufgelauert hatte. Da nahm ich ihre Hände, sah ihr in die Augen und gestand ihr, dass Matilde tatsächlich die Familie verlassen hatte, als sie, Matilde, noch nicht richtig krabbeln konnte. Dass sie aber wenig später bei einem Verkehrsunfall auf der alten Straße Rio-Petrópolis ums Leben gekommen war, und nun war es an der Zeit, ihre Seele in Frieden ruhen zu lassen. An Allerseelen nahm ich Maria Eulália mit auf den Friedhof São João Batista, und wir legten weiße Nelken auf das Grab, auf dem in Bronzelettern die Namen meines Vaters und meiner Mutter sowie der Name Matilde Vidal d’Assumpção (* 1912 , † 1929 ) standen. Und ich weiß nicht, warum ich sie nicht schon früher aufgeklärt habe, denn meine Tochter

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