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Vergraben

Vergraben

Titel: Vergraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Cross
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Wohnschlafzimmer war diesmal noch verwüsteter. Improvisierte Aschenbecher standen auf den Tischen, in den Bücherregalen und in der Kochnische, auf dem Fensterbrett und auf den Lehnen aller drei Sofas, neben den Computern und neben dem Tonbandgerät. Alle quollen über.
    »Was ist los?«, fragte Nathan.
    Bob zündete sich eine Zigarette an. Seine Hand zitterte.
    »Ich möchte, dass du dich hinsetzt und dir etwas anhörst.«
    Nathan zog sich die Hosenbeine hoch und setzte sich.
    Bob ging zum Tonbandgerät. Während er es mit der Hand mehrere Zentimeter zurückspulte, sagte er: »Achtung, das wird jetzt ziemlich laut. Ich erklär’ dir gleich, warum.«
    »Was ist es denn?«
    »Hör es dir einfach an.«
    Bob drückte auf Play .
    Er hatte das Tonbandgerät an zwei auf dem Boden stehende Lautsprecher angeschlossen. Aus ihnen dröhnte ein unangenehmes weißes Rauschen, als hätte man die Störgeräusche eines unprogrammierten Fernsehers auf volle Lautstärke aufgedreht. Nathan sah Bob mit verwirrtem, schmerzverzerrtem Gesicht an.
    Bob drückte auf Stop .
    Die Stille war plötzlich und vollkommen.
    Nathan rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Und was soll ich da hören?«
    »Vielleicht musst du es mehrmals hören. Das ist meistens so.«
    »Was soll ich denn mehrmals hören?«
    Wieder spulte Bob das Gerät von Hand zurück. »Versuch, dir die Hintergrundgeräusche wegzudenken.«
    Bob drückte wieder auf Play .
    Dasselbe raue Störgeräusch.
    Dann, erstickt und undeutlich, so etwas wie eine Stimme. Sie sprach leise und sehr kurz. Als es vorbei war, zweifelte Nathan daran, dass er überhaupt etwas gehört hatte.
    Bob hielt das Band an.
    »Du hast es gehört.«
    » Was soll ich gehört haben?«
    Bob spielte das Band noch einmal ab.
    Beim dritten Hören erklang etwas hinter dem weißen Rauschen, wie wenn jemand durch eine Hotelwand murmelte.
    »Also«, fragte Nathan in die schallende Stille, die darauf folgte, »was soll das sein? Spricht da jemand?«
    »Ich weiß nicht, ob da jemand spricht . Aber es ist eine Stimme.«
    Nathans Handflächen waren nass.
    »Wessen Stimme?«
    »Die von Elise.«
    Nathan lachte. Sein Mund war taub.
    »Und was glaubst du, was sie sagt?«
    Bob schluckte.
    »Ich glaube, sie sagt: ›Ich bin am Leben‹.«
    Zwischen ihnen herrschte lange Schweigen.
    Nathan sagte: »Du spinnst.«
    »So was nennt sich ESP«, erklärte Bob. »Elektronisches Stimmenphänomen. Ich untersuche das schon seit Jahren. Man lässt in einem leeren Raum ein Tonband laufen. Man versichert sich, dass es von Hörfunkwellen abgeschirmt ist und so weiter und so fort, man stellt ihm eine Frage. Man geht weg. Dann kommt man zurück und hat Stimmen auf dem Band.«
    »Was für Stimmen?«
    »Die der Toten.«
    »Sonst noch was?«, fragte Nathan und begann zu lachen. »Also wirklich, Bob«, meinte er.
    Bob wartete, bis Nathans Lachanfall vorüber war.
    »Spiel es noch mal ab«, bat Nathan.
    Bob spielte es noch einmal ab.
    Dieses Mal hörte Nathan ein klares Muster hinter dem wogenden, ozeanischen Brausen.
    Es war der Klang einer menschlichen Stimme. Es war eine Frau.
    Sie sagte: »Ich bin am Leben.«
    Oder vielleicht auch: »Ich bin mal eben …«
    Nathan schrie über den Lärm: »Das ist bestimmt was aus dem Radio. Oder deine Nachbarin. Oder jemand, der am Haus vorbeigeht.«
    Bob drückte auf Stop .
    »Diese Möglichkeiten habe ich ausgeschlossen.«
    »Wie?«
    »Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue. Ich mach das jetzt schon seit zwanzig Jahren.«
    »Na und? Ist das die erste Stimme, die du hörst?«
    Bob griff unter den Tisch und zog einen alten, blauen Koffer hervor, dessen Farbe an den Ecken abgewetzt war. Er machte ihn auf. Er war voll mit Tonbändern.
    »Auf jedem davon sind Stimmen, manchmal Dutzende. Ich habe auch mehrere Stunden Material auf den Festplatten dieser Computer archiviert. Sie sagen allen möglichen Scheiß – genau wie beim Ouijabrett. Gerade das macht es so spannend. Sie klingen verwirrt, losgelöst. Vielleicht nicht mal bewusst. Also nein, Nathan, das ist nicht meine erste Stimme. Aber es ist die erste Stimme, die ich je erkannt habe.«
    Nathan spürte etwas in sich aufsteigen. Er sagte: »Du kannst sie nicht erkannt haben. Du hast sie nur einen Abend lang gesehen, und das ist Jahre her. Zehn Jahre! Und du hattest getrunken. Und Kokain geschnupft.«
    »Hör es dir noch mal an.«
    Nathan wollte es nicht hören. Aber das wollte er nicht zugeben. Also ließ er es noch einmal über sich ergehen.
    Ich bin am Leben.
    »Es

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