Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
sie Worte fand und der Kloß in ihrer Kehle unterband, dass sie hätte sprechen können. Sie kniff die Augen zusammen, um den Schleier fortzublinzeln. Neil stellte sich an ihre Seite und beugte sein Gesicht an ihr Ohr.
„Wird er durchkommen?“ Er flüsterte beinahe unhörbar.
Sie kontrollierte Ace’ Puls und seine Atmung. Solange Leben in einem Menschen steckte, würde sie niemals die Hoffnung aufgeben.
Ich habe alles getan, was ich tun konnte
, wollte sie murmeln, doch die Befürchtung, Ace würde sie hören, schweißte ihr die Lippen zu. Die Aussage könnte zu der Interpretation führen, jede weitere Hilfe käme zu spät und daran wollte sie nicht glauben. Erst recht sollte Ace in seinem Zustand zwischen Leben und Tod keine Gesprächsfetzen aufschnappen, die ihm den letzten Rest Lebensenergie nahmen.
Hatte sie wirklich alles getan? Gab es nichts, was sie noch zustande bringen konnte?
Sie hielt seine unverletzte Hand umschlossen. „Die Chancen stehen gut. Ace wird es schaffen.“ Seine Finger zuckten sachte. Spürte er den Schwindel in ihren Worten, die hineingepresste Hoffnung, wo sie kaum welche sah, wenn nicht schnell Hilfe eintraf?
Plötzlich kam sie sich klein und nichtig vor. Was half all ihre Kunst, wenn eine höhere Macht andere Pläne hatte? Eine Weile stand sie reglos, und erst als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass Neil den Raum verlassen hatte. Sie trat ans Fenster. Nur zu gern hätte sie die Flügel geöffnet und einen lauen Wind heraufbeschworen, der die dicke Luft zerschneiden und etwas Erleichterung bringen sollte. Draußen war der Gestank des Brandes allerdings noch schlimmer, die Hitze erst recht.
Ihre Gedanken glitten zu Simbas verletzter Seele, deren Wunden kaum weniger gravierend erschienen als die von Ace. Sie waren aller verflossenen Zeit zum Trotz nicht weniger frisch und genauso wenig verheilt. Seit der halben Nacht, die sie miteinander in ihrem Apartment verbracht hatten, dem Morgen, an dem er sich ihr offenbart hatte und sich die Ereignisse anschließend überschlugen, hatte sie nicht mehr an das Gespräch gedacht. Ihr schauderte bei der Vorstellung, wie viele lange Monate Simba diesen inneren Kampf nun schon mit sich austrug. Er gab sich die Schuld am Tod seiner Ziehmutter und fand sich nicht in der Lage, seine Selbstkasteiung aufzugeben. Kein Menschenverstand und keine noch so guten Worte würden ihm die Last von der Seele nehmen. Auch keine Liebe.
Sie wäre bereit, ihm alles zu geben. Liebe, Vertrauen, Wärme, Zärtlichkeit. Alles, was ein Mensch brauchte, um glücklich zu sein. Dennoch wusste sie, es war nicht genug. Was er brauchte, konnte ihm kein Mensch der Welt geben. Seine Nani-ji.
Bislang hatte sie sich keine Spekulationen darüber erlauben wollen, ob die alte Dame noch lebte, ob sie die Tortur überstanden hatte, die ihre Peiniger ihr zugefügt haben mussten. Monate hatte sie in deren Gewalt verbracht, ehe dieses CT-Team Narsimha aufgespürt hatte. Reese hatte das Foto gesehen und auf einen Blick erkannt, dass der Körper von Folter und Qual gezeichnet war. Wie alt mochte Nani-ji sein? Es gab viele Inder, die ein sehr hohes Alter erreichten, aber Reese tat sich schwer damit, anhand ihrer Gesichter oder ihrer körperlichen Konstitution ihr Lebensalter zu schätzen. Dazu war ihr die Kultur zu fremd.
Narsimha wirkte jünger als zweiunddreißig. Tat er das wirklich? Wenn sie sich seinen straffen Körper vorstellte, jeder Muskel gehärtet wie Stahl, die Haut eine Mischung aus Bronze und einer weichen Pfirsichhaut, ein Sixpack wie gemalt. Seine breiten Schultern und die schmalen Hüften, die langen, athletischen Beine. Seine Vitalität befand sich ganz sicher auf dem Höhepunkt seiner Kraft und wirkte, als würde sie sich dort noch eine ganze Weile halten können. Auch sein Gesicht gab keinen Anlass, ihm sein Alter streitig zu machen. Sie sah sein kräftiges blauschwarzes Haar vor sich, die warmen Cappucino-Augen. Eine gerade Nase, ein nur leicht kantiges Kinn und viel zu volle Lippen für einen Mann, beinahe ein weiblicher Zug in seinem Gesicht, das dennoch männlicher und markanter nicht hätte wirken können. Keine Falten, nicht einmal Fältchen zerknitterten seine Haut, außer wenn er lachte. Dann wirkten die winzigen Krähenfüßchen wie feine Sonnenstrahlen.
Aber da waren diese Augen unter den geschwungenen Brauen, in denen sich seine Seele spiegelte. Und diese Seele war alt. Sie hatte zu viel Leid gesehen und nicht nur das: Sie hatte es ertragen müssen.
Ihr
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