Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
Herz verkrampfte sich, als sie an den vierjährigen Jungen dachte, den die Eltern im Wald ausgesetzt hatten. Welche Furcht hatte er durchgemacht. Welche unvorstellbar grausamen Stunden, bis Nani-ji ihn gefunden hatte. Mehrfach hatte Simba versichert, dass Nani-ji ihm nicht nur alles ersetzt hatte, was ein Kind brauchte, um glücklich zu sein, sondern dass sie es ihm erst gegeben hatte. Dass er es allein ihr zu verdanken hatte, dass aus ihm ein gesunder Geist geworden war, ein lebensfroher Mensch – bis zu dem Tag, an dem er ihren verkohlten Körper auf der Lichtung gefunden hatte.
Jedes seiner Worte hatte sie geglaubt. Obwohl er zwischendurch beinahe tonlos sprach, strahlte er mit spürbarer Intensität seine Gefühle aus, die er während des Erzählens empfunden hatte. Doch da schwang auch etwas mit, das tiefer ging. Viel tiefer, und es war ihm offensichtlich nicht bewusst.
Seine Seele hatte eine Wunde davongetragen, tief und schwärend im tiefsten Unterbewusstsein. Eine Verletzung, die wahrscheinlich nur jemand nachvollziehen konnte, der selbst das schlimmste Schicksal erlebt hatte, das Reese sich vorstellen konnte: Von über alles geliebten Menschen grundlos verstoßen zu werden. Vom Vater, von der Mutter.
Es musste einen zum Wahnsinn treiben. Es musste einem Schmerzen zufügen, die die schlimmstmögliche körperliche Qual übertrafen. Fühlte man sich überhaupt noch als Mensch? Von niemandem geliebt zu werden, sich ausgestoßen vorzukommen, brachte schon manch einen Erwachsenen weit über die Grenzen des Erträglichen hinaus, was richtete es in einer Kinderseele an? Ein Mensch mit Selbstvertrauen und sozialem Rückhalt mochte in der Lage sein, über eine derbe Enttäuschung hinwegzukommen, doch niemals ein Kind mit zertrümmerten Gefühlen.
Sie dankte dem Himmel, dass Simba noch so klein gewesen war. Er erinnerte sich an das meiste nicht, was vor seinem vierten Lebensjahr passiert war. Nani-ji war für ihn Mutter, Vater und Großmutter gewesen. Teils selbst eine Schwester und eine Freundin. Sie hatte mit ihm getobt und gespielt, ihm Geschichten erzählt und ihm die Welt erklärt, ihn im Arm gehalten und ihm das Haar gestreichelt. Sie mochte eine einfache und arme Frau gewesen sein, doch Reese hatte mehr als deutlich gespürt, dass sie das allenfalls gemessen an den Maßstäben der industrialisierten Welt zu nennen war. In Wahrheit besaß sie den größten Reichtum, den ein Mensch sein Eigen nennen konnte. Ein unendlich großes Herz. Liebe, so wahrhaft und rein, wie Reese es sich beinahe nicht vorstellen konnte, würde sie nicht ebenfalls eine unerklärliche und unstillbare Sehnsucht spüren, wenn Simba nicht in ihrer Nähe war.
Nani-ji hatte alles gegeben, wozu ihr Herz und ihre Seele in der Lage gewesen waren – und sie hatte ebenso reine und tiefe Liebe zurückerhalten.
Ob das, was zwischen Narsimha und ihr keimte, jemals ebenso tief gehen konnte? Ein schmerzhaftes Ziehen machte ihr bewusst, dass die Chancen schlecht standen. Wenn diese Mission hier zu Ende ging und Narsimha seine Ziehmutter nicht hatte finden können, wäre sein Herz für immer verloren. Sie spürte es. Nicht, dass er sich in Selbstmitleid verlieren würde. In Selbstaufgabe vielleicht, aber noch viel mehr in Schuldgefühlen. Er wäre nie wieder fähig, seine Gefühle zu verschenken aus tief sitzender und nicht zu heilender Angst, einen erneuten Verlust zu erleiden. Er würde es nicht verkraften, wenn seine Partnerin krank werden würde, wenn sie eines Tages nach einem erfüllten Leben früher den letzten Weg anträte als er. Alles aus Angst, daran zu zerbrechen.
Ein wenig war sie versucht, ihn zu schelten. Ihn am Schopf zu packen und zu schütteln, ihn aufzufordern, um sich und seine Gefühle zu kämpfen, doch sie wusste, es wäre zwecklos. Wenn das hier schiefging, würden sich die Splitter der verletzten Kinderseele ihren Weg in den Vordergrund bohren und unaufhaltsam den Rest seines Herzens in den Verderb, in die absolute Selbstaufgabe treiben.
Neil kam mit einer Schüssel voll Wasser zurück und sie nickte, als er andeutete, Ace’ Gesicht mit einem Lappen abtupfen zu wollen.
Reese blickte erneut hinaus und ihr war, als träfe sie der Schlag. Für einen nicht enden wollenden Moment fühlten sich ihre Beine schwer wie Blei an. Schwindel ließ sie schwanken. Sie klammerte sich an das Fensterbrett. Ihr Verstand wollte nicht begreifen, was sie sah.
Von Zac und Wade flankiert humpelte Simba über die Straße. Er trug eine Frau auf
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