Verhängnisvolles Gold
greife mir eine Uhr von dem Beistelltisch. Sie kreischt auf.
»Mach sie nicht kaputt!«
Ich betrachte den Gegenstand in meiner Hand. Irgendwie ist mir klar, dass er ihr mehr bedeutet als ihr Sohn, und das geht mir durch und durch, auch wenn Astley ein eigenartiger, mordender Lügenbold ist. Sollen Eltern ihre Kinder nicht bedingungslos lieben? Die Uhr ist ein französisches Modell mit vergoldeten Engeln auf einem weißen Sockel aus Marmor. Sie ist gute dreißig Zentimeter breit und fast vierzig Zentimeter hoch. Vergoldete Bronzeengel tanzen auf den Henkeln.
»Die ist von Nicolas M. Thorpe«, stößt sie keuchend hervor. Sie greift sich mit der Hand ans Herz und wirft sich in ihrem Sessel zurück wie eine alte viktorianische Frau in einem Brontë-Roman.
»Und wenn sie von diesem verdammten Michelangelo wäre«, knurre ich. »Ich pfeife drauf. Es ist ein Gegenstand. Ein Ding, und ich mach es kaputt, wenn Sie weiterhin Spielchen mit mir treiben.«
Sie setzt sich aufrecht hin. Das ganze Kleinmädchengehabe ist weg. Sie ist Räuberin und Königin. »Ich könnte dich in Stücke reißen.«
»Das bezweifle ich, und selbst wenn … zuerst würde ich das hier kaputt machen.« Ich hebe die Uhr hoch über meinen Kopf. Das fühlt sich zwar ein bisschen melodramatisch an, aber Elfen scheinen auf so was zu stehen. Egal. Die Pose zeigt ihr, dass ich die Uhr im Bruchteil einer Sekunde auf dem Boden zerschmettern kann. Und es funktioniert, denn sie zuckt zusammen. Ich halte inne und sage ganz ruhig, als ob es was ganz Alltägliches für mich ist, Elfenköniginnen zu drohen: »Und jetzt sagen Sie mir, wie ich nach Walhalla komme.«
»Dann gibst du mir meine Uhr?« Sie lächelt und macht vorsichtig einen Schritt nach vorn.
Ich denke darüber nach. »Vielleicht.«
Sie kräuselt die Lippen und ihre Finger trommeln auf die Armlehne des Sessels. Die Fingernägel klacken auf dem alten Holz, einmal, zweimal und wieder. Ich könnte wetten, dass sie diese Fingernägel am liebsten an mir ausprobieren würde.
»Um nach Walhalla zu kommen, musst du die Bifröst-Brücke finden.«
»Das weiß jedes Kind.«
»Ja, aber Bifröst ist kein Gegenstand. Er ist ein Lebewesen, zum Teil auch Elf. Er ist die Brücke zu dem Land. Sein Körper dient als – in Ermangelung eines besseren Worts sage ich – Portal. Außerdem musst du ein bestimmtes Zeremoniell durchführen.« Langsam steuert sie auf einen Tisch zu.
»Sie holen sich lieber keine Waffe«, sage ich, während ich versuche, aus ihrer Information einen Sinn herauszufiltern. Wir haben Bifröst schon. Wir haben die Brücke. Hoffnung rauscht auf mein Herz zu.
Sie bewegt sich sehr langsam, wie die Verbrecher in Krimis, die zeigen wollen, dass sie nicht beabsichtigen, eine Waffe zu ziehen. »Ich hole nur ein Buch. Ein altes Buch. Dort stehen Einzelheiten zu dem Zeremoniell, das durchgeführt werden muss. In Kapitel zwölf.«
Sie zieht eine Schublade auf, nimmt ein kleines, in rotes Leder gebundenes Buch heraus und hält es mir hin.
»Noch nicht«, sage ich. »Sagen Sie mir, wie Astley seine … sie getötet hat.«
Ich kann das Wort nicht aussprechen.
»Seine Frau? Seine Königin?«, vervollständigt sie für mich den Satz. »Du bist meiner Meinung nach noch nicht so weit, dass du das erfahren solltest, meine Neue. Warum beschäftigt es dich? Ich dachte, du interessierst dich nur für deinen Wolf?«
»Das tue ich auch …«, sprudelt es aus mir heraus. »Das tue ich wirklich, aber Astley ist mein Freund, und ich dachte …«
»Was?« Sie schleicht sich an wie eine Katze. »Was, neue Königin? Du dachtest, er wäre dir gegenüber ehrlich? Du würdest ihn kennen? Lass dir einen Rat geben: Traue keinem.«
Ich sage nichts. Sie stößt ein kurzes, bellendes Lachen aus. Es klingt wenig damenhaft und passt überhaupt nicht zu all dem lächelnden Gegurre, das sie den ganzen Abend über von sich gegeben hat.
Sie schiebt sich noch einen Schritt näher. Ob sie wohl denkt, dass ich das nicht bemerke? Offenbar unterschätzt sie mich. Die Leute unterschätzen mich dauernd. Normalerweise nützt mir das. Allerdings bin ich im Augenblick nicht gerade in bester Verfassung. Meine Wunde brennt wie Feuer und der Schmerz durchflutet meinen Körper. Das kommt wahrscheinlich davon, dass ich die ganze Zeit die Uhr hochhalte. Das macht alles nur noch schlimmer. Ich spüre, wie mir kleine Schweißtropfen auf die Stirn treten. Großartig.
»Du kannst diese Uhr nicht ewig über deinen Kopf halten.« Ein leichtes
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