Verhängnisvolles Gold
dazu, die Wirklichkeit jenseits der Illusion zu sehen, das ist der Trick, wenn man durch einen Zauber hindurchsehen will. Man sucht nach einem Schatten, der ein wenig fehl am Platz scheint. Manchmal ist es kein Schatten, sondern eher ein Schimmern. Ich suche das Gras ab, aber ich finde nichts. Dann schaue ich in die Bäume hinauf, und dort sehe ich es, ein schwaches Schimmern, als würde ich den Baum nicht ganz scharf sehen.
»Astley?«, rufe ich.
Keine Antwort. Ich konzentriere mich sehr, damit der Zauber verschwindet, während ich näher komme. Das Schimmern löst sich auf, und an seine Stelle tritt ein Haus, das von einem der größten Äste des Baums getragen wird. Es verschlägt mir fast den Atem. Das Haus ist aus Holz und hat ein großes Fenster. Es ist von winzigen weißen Lichtern eingefasst, die auch die Äste des Baumes umranken. Eine Treppe windet sich den Stamm hinauf und führt zu einer Veranda, deren Geländer aus Wurzeln zu bestehen scheint. All das sieht unglaublich verwunschen aus, und wahrscheinlich ist es das auch – nach Elfenart.
Ich steige die Treppe hinauf. Keine Ahnung, ob Astley wirklich da ist, aber selbst wenn nicht, würde ich das Haus gern erkunden. Ehrlich gesagt, wäre es fast cooler, er wäre nicht da, denn ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll zu dem, was gerade im Haus seiner Mutter vorgefallen ist, oder zu dem, was sie gesagt hat. Auch wenn er sie nicht getötet hat, ist das eine ziemlich große Lüge – durch Verschweigen.
Nick hat das auch einmal gemacht. Er hat mich auch angelogen, weil er mir nicht erzählt hat, dass seine Eltern tot sind. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn deshalb zur Rede zu stellen, denn ich habe es erst erfahren, als er schon weg war.
Ich bleibe einen Augenblick lang stehen, um den Schmerz in meiner Brust mit Willenskraft zu verringern und auch, damit ich nachdenken kann. Warum lügen Menschen und Elfen und Werwesen so viel? Warum sind wir nicht einfach ehrlich zueinander? Es wäre so einfach, wenn man allen immer trauen könnte, aber man kann doch nicht mit einer Schere in jeder Hand durchs Leben gehen und an allem herumschnippeln, was die Leute sagen oder nicht sagen, oder? Man braucht doch eine freie Hand, um die Wahrheit einzufangen.
Kurz denke ich über meine Situation nach. Normalerweise wäre so eine Treppe kein Problem für mich, aber mit der Schussverletzung wird sie mir fast ein bisschen zu viel. Dennoch mache ich mich wieder daran, das Haus zu erreichen, das fast zehn Meter über der Wiese thront. Als meine Füße die Veranda berühren, fängt die Welt um mich herum an zu schwanken, und ich fürchte schon, ohnmächtig zu werden.
»Elfen werden nicht ohnmächtig«, murmle ich. »Wir sind total hart im Nehmen. Wir werden nicht ohnmächtig.«
Ich spähe durch das große Fenster und versuche Astley im Haus zu entdecken. Lichtkugeln scheinen in verschiedenen Höhen durch die Luft zu schweben. Sie verbreiten ein sanftes, weiches Licht wie Kerzen. Das ist genau das Gegenteil davon, wie ich mich innerlich fühle. Was tue ich hier? Ich will schon wieder einen Elfenkiller zu Rede stellen, und dieser ist auch noch mein König. Genial. Ich bin einfach genial. Offenbar habe ich inzwischen auch ein Händchen für dramatische Auftritte.
Vor mir ist eine Tür aus Glas und gedrechseltem Holz, ganz glatt und weich geschliffen. In den hölzernen Türgriff ist ein Pferdekopf geschnitzt. Bevor ich nachdenken kann, berühren meine Finger ihn und streicheln über die Nüstern des Pferdes. Es fühlt sich fast an, als wären sie echt. Die Tür ist nicht verschlossen. Ich trete ein und lasse die Tür hinter mir zufallen, während ich zu erspüren versuche, ob Astley da ist. Er ist da, ich spüre seinen Schmerz.
Aber ich sehe ihn nicht. Ich schaue mich im Wohnzimmer um, das ich gerade betreten habe. Anders als im Haus seiner Mutter sind die Möbel alle sehr modern. Es herrscht eine fast japanische Atmosphäre. Ich gehe weiter in den Raum hinein und hinterlasse mit meinen Turnschuhen nasse Spuren. Auf dem Boden sind noch andere nasse Spuren, die wahrscheinlich von Astley stammen. Ich würde gern der glitzernden Spur folgen, aber auf dem schimmernden Fußboden liegt überall Glitzer. Als hätte jemand einen ganzen Karton von Glitzerstaub verteilt.
Auf dem Boden liegen Bambusmatten. Wo das Wasser aus Astleys nassen Kleidern getropft ist, hat sich das Weiß in dunkles Grau verwandelt. Ich folge der Wasserspur um das quadratische weiße Sofa und den Sessel herum.
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