Verhängnisvolles Gold
hinten gegen den Mietwagen. Alles um mich herum schwankt. Astley berührt meine Wange mit dem Handballen und ich lasse ihn gewähren. Auch seine Augen sind ganz traurig, vielleicht nicht so sehr wegen Mrs. Nix, sondern wegen der vielen anderen Toten.
Ich atme tief ein und versuche, die Trauer irgendwo in meinem Körper zu verstauen, vielleicht hinter meinem Blinddarm, auf jeden Fall so, dass sie eine Weile weggeschlossen ist, damit ich funktionieren kann. Dann rufe ich die anderen zu mir. Sie sollen zurückkommen, weg von dem Blutbad und der Zerstörung.
In diesem Augenblick fällt ein angesengtes Stück Stoff vom Himmel herab. Es stammt von Mrs. Nix’ tannengrünem Sweatshirt mit dem Rentierauge. Sie hatte sich so auf Weihnachten gefreut. Ihr Büro in der Schule hatte sie schon mit kleinen Rentieren dekoriert und dadurch vielleicht das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat missachtet. Aber das war ihr wohl egal. Zitternd beuge ich mich hinunter, hebe den Stofffetzen auf und stecke ihn ein. Warum? Keine Ahnung. Einfach so. Weil sie eine Heldin war, und ich etwas brauche, das mich an sie erinnert, und wenn das ein angesengtes Stück ihres Sweatshirt sein soll, dann soll es so sein. Dann soll es einfach so sein …
Wir schleichen wie Zombies zu unseren Autos. Mir ist klar, dass wir weg sein müssen, bevor die Polizei kommt. Bestimmt hat jemand etwas gehört. Astley und Amelie belegen den ganzen Bereich mit einem Zauber, damit alles aussieht wie zuvor. Sie stehen nebeneinander und ein Summen erfüllt die Luft. Ich sichte die Verletzungen und versuche, alle Wunden zu verbinden, bevor wir verschwinden. Das Material dazu hole ich aus dem Erste-Hilfe-Koffer, den Betty in dem Metallkasten auf der Ladefläche ihres Pick-up aufbewahrt. Sie hatte ihn im letzten Augenblick in den Mietwagen meiner Mutter gestellt: »Für alle Fälle.«
Issies wattierter pinkfarbener Mantel ist zerrissen und sie weint leise vor sich hin. Devyns Mund ist zu einer zornigen Linie zusammengezogen. Er blutet am Hals und an der Stirn.
»Komm, ich verbinde dich«, sage ich. Wir bewegen uns kaum. Der Schock reduziert uns auf die Hälfte dessen, was wir sonst sind.
»Issie zuerst«, beharrt er. Sie lehnen sich an den Mietwagen.
»Issie ist nicht so schlimm verletzt«, widerspreche ich.
»Issie zuerst.«
»Ist das in Ordnung für dich, Is?«, frage ich.
Sie nickt, sagt aber nichts. Sie hat schon die ganze Zeit kein Wort gesagt. Als ob sie ihre Stimme verloren hätte. Ihre Augen sind ausdruckslos und voller Tränen. Ich hatte sie gar nicht gefragt, wie sie es trotz Hausarrest geschafft hatte mitzukommen. Was bin ich nur für eine Freundin. Dauernd bringe ich sie und all die anderen in Gefahr. Ich fühle mich so schuldig, dass es mir den Magen umdreht. Rasch versorge ich Issies Wunden und gehe dann weiter zu Devyn und dann zu meiner Mutter. Astley kümmert sich trotz seiner eigenen Verletzungen um Amelie. Cassidy scheint sich dank ihrer besonderen Herkunft rasch selbst zu heilen. Sie schaut nach Issie und Devyn, murmelt magische Worte und schluchzt leise vor sich hin, während sie arbeitet.
»Es wird alles gut«, beharrt meine Mutter.
Ich streiche die Brandsalbe auf ihre Hände, die in einem dicken Strang aus der Tube quillt. Sie zuckt zusammen.
»Es wird alles gut «, wiederholt sie.
Aber ich weiß nicht, wie. Ich schaue zu Astley auf. Er begegnet meinem Blick, und da bemerke ich erst, dass seine Augen voller Tränen sind und golden glänzen. Ob meine Augen auch so aussehen? Ob wir Nick jemals finden? Ob wir irgendwann einmal keine Menschen mehr verlieren, die wir lieben? All diese Fragen kommen mir in den Sinn, während ich die Hand meiner Mutter versorge, aber ich bekomme keine Antworten, nur das Gefühl, etwas verloren zu haben.
Meine Mutter nimmt meine Hände zwischen ihre verbrannten Handflächen und hindert mich daran, weiteren Verbandsmull abzuwickeln. »Wir hören auf, Zara. Verstanden? Kein Walhalla. Keine Kämpfe mehr. Ich verbiete es dir. Wir hören auf.«
»Aber Nick …«
»Kein Junge ist all diese Opfer wert.«
Alle unterbrechen, was sie gerade tun, und beobachten uns. Mein Mund steht offen. Ich mache ihn zu und öffne ihn dann wieder, wäge meine Worte ab, aber es kommen keine Worte.
Ihre Pupillen flackern. »Ich verbiete es dir.«
Dieser Ton. Früher brachte mich dieser Ton dazu, alles zu tun, was sie verlangte. Er brachte mich dazu, in mein Zimmer zu verschwinden, wenn ich ungezogen gewesen war, das Geschirr
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