Verheißung des Glücks
eine harte Probe. Aber warum sollten sie sich überhaupt noch gedulden, wo doch die Trauung unmittelbar bevorstand?
Vermutlich sah Lincoln das anders. Immerhin war er derjenige gewesen, der auf Zurückhaltung bestanden hatte. Er hatte sie nicht kompromittieren wollen, falls sie ihn doch nicht heiraten durfte. Doch dann hatten sie sich über alle Verbote hinweggesetzt und mit ihrer Flucht ihre gemeinsame Zukunft selbst in die Hand genommen. Würde Lincoln noch immer darauf bestehen zu warten, wenn sie ihm sagte, dass das nun nicht mehr notwendig war? Würde sie es überhaupt wagen, diesen Gedanken auszusprechen?
Er hätte sie nicht allein lassen sollen. Als es endlich Zeit wurde, zum Dinner hinunterzugehen, war Melissa ein Nervenbündel. Sie wollte noch in dieser Nacht das Liebeslager mit ihm teilen, fürchtete jedoch, er könnte sie für ganz und gar schamlos halten, wenn sie ihn das wissen ließ. Langsam kam es ihr vor, als hätte sie, seit sie und Lincoln einander zum ersten Mal begegnet waren, pausenlos nur gewartet. Erst hatte sie darauf gewartet, dass sie sich wiedersahen, dann darauf, dass Lincoln nach London kam, und schließlich dass er ihr den Hof machte. Aber auf die eine oder andere Art war immer etwas dazwischengekommen. Vor allem ihre Onkel hatten sie und Lincoln davon abgehalten, sich zu benehmen wie zwei ganz normale junge Leute, die einander kennen und lieben lernten. Doch das lag nun endlich alles hinter ihnen. Abgesehen davon hatten sie beide vom ersten Augenblick an gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren. Nun konnte sich ihnen nichts mehr in den Weg stellen. Deshalb erschien es Melissa ja auch so unnötig, sich noch eine ganze Nacht gedulden zu müssen.
Es wurde ein schönes Dinner, sehr gemütlich und intim. In ungestörter Zweisamkeit saßen sie an einem Ende der langen Tafel. Nur das warme, flackernde Licht von Kerzen erhellte den Raum. Die Diener gaben sich die größte Mühe, ihnen alle Wünsche von den Augen abzulesen, dabei aber dennoch nicht aufdringlich zu sein. Melissa hätte dieses romantische Beisammensein noch mehr genießen können, wenn ihre Gedanken nicht immer wieder davon galoppiert wären. Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie endlos lang auf Lincolns Mund starrte, ihm beim Essen zusah und in jede Bewegung, in jede Geste eine eigene, höchst lustvolle Bedeutung hinein interpretierte. Sicher hätte Lincoln sie nicht verstanden, denn er war zurückhaltender denn je und sah sie kaum an. Fühlte er denn nicht dasselbe wie sie?
Als endlich das Dessert aufgetragen wurde, wusste Melissa kaum mehr, wie sie sich noch ablenken sollte. Sie beschloss, an Lincolns Tante zu denken. Schon beim Rundgang durch das Haus war ständig ihr Name gefallen. Immer wieder hörte sie »Lady Henriette dies«, »Lady Henriette das« von den Dienern. Sie befanden sich in Lady Henriettes Haus, und das würde es auch immer bleiben, selbst wenn Lincoln als der derzeitige Lord Cambuiy der rechtmäßige Herr des Hauses war. Solange Henriette hier lebte, würden die Dienstboten ihren Anweisungen folgen. Melissa wollte ihr eigenes Heim — ein Haus, in dem sie sich nicht wie ein Eindringling vorkam. Auf Lincolns Anwesen in Schottland lebte seine Mutter, und auch dort würde sie sich als drittes Rad am Wagen f ühlen wie hier im Süden Englands.
Über solche Dinge hatten sie und Lincoln noch gar nicht sprechen können. Aber Melissa zögerte nicht, das Thema auf den Tisch zu bringen. »Werden wir hier in diesem Haus wohnen? Zusammen mit deiner Tante und deiner Kusine?«
»Das Haus ist riesig, Meli. Es bietet mehr als genügend Platz für eine große Familie.«
»Natürlich. Aber es ist das Haus deiner Tante. Was, wenn ich nun mein eigenes Haus haben will?«
»Möchtest du das denn?«
Melissa errötete und senkte den Blick. »Ich glaube schon.«
»Dann werden wir dir wohl eines bauen müssen.«
Sie blinzelte Lincoln erstaunt an. »Wirklich?«
»Ja. Auch wenn es dich vielleicht wundert, ich verstehe, dass du nicht hier leben willst. Du sollst dein Haus haben. Zehn Häuser, wenn es sein muss. Ich möchte dich glücklich machen, Meli. Alles andere ist nicht wichtig.«
Sie lächelte ihn an. »Ein Haus wäre mir schon genug. Aber darf ich auch bestimmen, wo es stehen soll?«
»Das darfst du — mit gewissen Einschränkungen.«
»In Schottland?«
Lincoln verdrehte die Augen und lachte dann leise. »Das habe ich kommen sehen. Also schön, in Schottland. Aber bitte weit weg von der ... unerträglichen
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