Verhext: Roman (German Edition)
wurde es ernst. Na gut, dann würde sie eben regelmäßig üben. Bald.
Es war ja nicht so, als würde sie sich davor drücken. Aber als die wunderbare Hochstimmung nach dem Kreisritual langsam abgeklungen war, hatte sie es mit der Angst bekommen. Sie hatte das Leben von mindestens vierzehn Menschen, vielleicht mehr, in ihren unzureichend geschulten Händen gehalten. Sie war eine Immobilienmaklerin.
Sie fand ein Zuhause für Menschen. Sie bestimmte nicht über Leben und Tod.
Ihre Mentalkräfte würde sie nutzen, um Gutes zu tun; so viel hatte Jennie ihr beigebracht. Weiter wollte sie nicht denken.
Lauren öffnete das Fotoalbum, das Jennie gepostet hatte. Schon nach zwei Fotos musste sie schniefen. Jennie war ein Genie mit der Kamera: ihr Enkel mit dem violetten Haar, der sich im Schlaf an einen flachen Felsen am Ocean’s Reach schmiegte; Aervyn im Sandkasten, der mit verzücktem Gesicht eine Sandburg schweben ließ; drei Gesichter, die gespannt zusahen, wie sich in Ginias Hand eine Blüte öffnete.
Das letzte Foto war nicht von Jennie aufgenommen worden – es trug nicht ihre künstlerische Handschrift –, trotzdem verschlug es Lauren den Atem.
Es zeigte sie und Aervyn. Sie saßen sich auf einem flachen Felsen gegenüber, eingetaucht in unwirkliches Licht. Und sie sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie eine Hexe.
Jamie fragte sich, ob er Nat schon jemals zuvor nervös erlebt hatte.
Er hielt ihr die Tür zum Chez Lollo auf, dem schicken Restaurant, wo sie mit Nats Eltern zum Mittagessen verabredet waren. Die Smythes waren aus Boston zu ihrem, wie Nat es nannte, »vierteljährlichen Kontrollbesuch« eingeflogen. Sehr viel mehr hatte sie ihm nicht gesagt.
Sie luden ihn zum Essen ein, wie schlimm konnte es da schon werden? Während sie der sehr steifen Empfangsdame folgten, blickte Jamie sich um. Hamburger konnte
er nirgends entdecken. Einiges auf den Tellern sah nicht einmal aus, als wäre es essbar. Mist. Er hatte durchaus gute Manieren – er griff nur sehr ungern darauf zurück.
Die Empfangsdame blieb neben einem Tisch mit einem älteren Paar stehen, die aussahen, als wären sie einem Hochglanzprospekt für Finanzplanung entsprungen. Nat schob eine feuchte und ein wenig zittrige Hand in seine.
»Mutter, Vater, das ist Jamie. Jamie, das sind meine Eltern, Walter und Virginia Smythe.«
Kommt mir immer noch vor wie eine Werbung für Finanzplanung, dachte Jamie. Er zog einen Stuhl für Nat heran. »Ich freue mich sehr, Sie beide kennenzulernen. Eine meiner Nichten heißt Virginia, aber wir nennen sie Ginia. Sie ist ganz vernarrt in Nat.«
»Ich halte nichts von Kosenamen«, sagte Virginia. »Nat, wie ich sehe, hast du dir immer noch nicht angewöhnt, pünktlich zu erscheinen.«
Jamie blinzelte. Was war das? Waren sie zum Direktor gerufen worden?
Er sah zu Nat. Abgesehen von der feuchten Hand, die seine umklammert hielt, wirkte sie vollkommen gefasst. Oder vollkommen leer, so als hätte sie die Nat in irgendeinen Schrank gestopft und dafür Natalia Smythe hervorgeholt. Natalia gefiel ihm nicht besonders.
Dem nachfolgenden Schweigen entnahm er, dass Virginias Frage keine rhetorische war.
»Mein Fehler. Ich habe noch ein Programm zu Ende geschrieben, deswegen die Verspätung.«
»Sie arbeiten mit Computern?« Walter klang, als wäre das möglicherweise eine akzeptable Beschäftigung.
»Ja. Meine Familie hat eine Video- und Online-Spielewelt entwickelt namens Enchanter’s Realm . Meine Schwester und ich machen die meiste Programmierarbeit, aber meine Nichten sind uns dabei schon eine große Hilfe.«
Totenstille. Treffer. Die meisten Menschen fanden es ziemlich cool, wenn man Videospiele programmierte. Zumindest war es gewöhnlich ein guter Gesprächseinstieg.
Er versuchte es mit etwas anderem. »Leben die meisten Mitglieder Ihrer Familie in Boston?«
Virginia nickte entschieden. »Die Smythes leben seit über zweihundert Jahren in Boston. Wir warten darauf, dass Natalia endlich erwachsen wird und zurückkehrt.«
Mist. Das wäre dann wohl Treffer Nummer zwei.
Nat meldete sich zu Wort. »Mein Yoga-Studio ist hier, Mutter. Mein Leben ist hier, zumindest in voraussehbarer Zukunft.« Jamie sah eine Spur von Belustigung in ihren Augen. Ah, da war sie, seine Nat. Er war stark versucht, kleine Kinder und Schneemänner ins Gespräch einzubringen. Voraussehbare Zukunft, in der Tat.
»Man hat seine Zukunft immer selbst in der Hand«, sagte Virginia.
Zum Teufel damit. Nur ein Waschlappen würde
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