Verhext
kann dir unmöglich erlauben, ein solches Risiko einzugehen.«
»Nein, natürlich nicht«, beruhigte Iphiginia sie. »So etwas würde ich nie tun.«
Doch genau das hatte sie vor.
Heute nacht auf dem Friedhof von Reeding würde sich ihr vielleicht endlich die Gelegenheit bieten, hinter die Identität des Schurken zu kommen.
Um zehn Minuten vor Mitternacht hielt die Droschke vor den nebelumhüllten Toren des Friedhofs von Reeding.
Iphiginia, die ein unscheinbares graues Kleid und einen langen grauen Umhang trug, spähte hinaus in die Dunkelheit.
Schwaden kalten Nebels stiegen zwischen den Grabsteinen und Denkmälern auf, mit denen der kleine Friedhof übersät war, und verschluckten das schwache Licht der Kutschenlampen. Iphiginia erschauderte, als sie den Segeltuchbeutel voller Banknoten und eine Laterne nahm und sich daran machte, die Droschke zu verlassen.
Der Erpresser hätte keinen unheimlicheren Übergabeort nennen können, dachte sie, als sie die Tür öffnete. Sicher hatte er die Absicht, sein Opfer zu ängstigen. Sie fragte sich, ob er vielleicht sogar den Nebel vorausgesehen hatte.
Sie stieg aus, hob die Laterne in die Luft und wandte sich an den Kutscher.
»Ich bin gleich wieder zurück.«
Das Gesicht des Mannes war unter der breiten Krempe seines Huts kaum zu erkennen. »Sin’ Se sicher, daß Sie der lieben Verstorbenen um diese Uhrzeit gedenken woll’n, Ma’am?«
»Ich habe es ihr versprochen«, sagte Iphiginia. »Es hat der armen Frau viel bedeutet zu wissen, daß ich ihren letzten Wunsch erfüllen würde.«
»Sie merkt doch gar nich’ mehr, ob Sie ihren schwachsinnigen Wunsch erfüll’n oder nich’. Aber bitte. Ich warte solange.«
»Vielen Dank.«
Iphiginia ging hinüber zu den Toren des Friedhofs. Sie war sich nicht sicher, was sie tun würde, wenn sie verschlossen wären.
Aber die schweren Eisentore schwangen knarrend zur Seite, als sie dagegendrückte.
Iphiginia trat ein, hielt die Laterne in die Höhe und versuchte, irgend etwas zu erkennen. Der Schein der Lampe fiel auf die erste Reihe von Grabsteinen.
Während sie weiter in die Tiefen des Friedhofs vordrang, las sie im Vorbeigehen die Namen auf den Steinen.
JOHN GEORGE BRINDLE, DREI JAHRE, EIN MONAT.
MARY ALICE HARVEY, GELIEBTE FRAU UND MUTTER.
EDWARD SHIPLEY, 1785-1815. EIN TAPFERER SOLDAT.
EIN GUTER FREUND.
Iphiginia wurde immer bedrückter. Ein eisiger Schauder rann durch ihre Seele.
Amelia hatte recht gehabt. Dies war mit einem Rundgang durch die Ruinen von Pompeji gewiß nicht zu vergleichen.
Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Iphiginia wußte, daß Zoe keine zwei Minuten an diesem gespenstischen Ort geblieben wäre. Ihre lebhafte Phantasie wäre mit ihr durchgegangen, und sie wäre nicht in der Lage gewesen, das Geld an den angegebenen Ort zu bringen. Also hätte der Erpresser beim nächsten Mal zweifellos das Doppelte gefordert.
Plötzlich tauchte direkt vor Iphiginia die gähnende Öffnung einer großen steinernen Gruft auf. Das elegante schmiedeeiserne Tor stand weit auf, und das dunkle Innere der Grotte schien nur auf sie zu warten.
Iphiginia hielt den Atem an und reckte die Laterne höher in die Luft. Sie hätte nie gedacht, daß sie einen Sinn für das Melodramatische hätte oder daß sie leicht einzuschüchtern sei, aber das hier war selbst für sie beinahe zuviel.
Das flackernde Licht der Laterne fiel auf den Namen, der über der geschwungenen Eingangstür eingraviert war.
ELISABETH EATON, 1771-1817 NACH EINEM LEBEN VOLLER QUALEN MÖGE SIE NUN IN FRIEDEN RUHEN
Iphiginia zögerte, ehe sie über die Schwelle der Grotte trat. Die Laterne erhellte nur die ersten Meter des steinernen Gangs.
Aus den Tiefen der Totengruft stiegen Kälte und Feuchtigkeit herauf.
Iphiginias Herz klopfte so heftig, daß ihr schwindlig wurde. Ihr Magen zog sich schmerzlich zusammen. Der Drang umzukehren und zu der wartenden Droschke zurückzulaufen war beinahe überwältigend.
Sie preßte die Tasche mit den Banknoten an sich, atmete tief ein und ging vorsichtig ein paar Schritte.
Ihr war, als würde sie eine Höhle betreten.
Es war so finster, daß selbst das Licht der Laterne zu verblassen schien. Iphiginia bemerkte, daß wer auch immer dieses Monument hatte errichten lassen, keine Kosten gespart hatte. Die Steinwände waren reich mit eigenartigen Bildern von verschlungenen Weinranken und offenen Büchern verziert.
Iphiginia hielt die Laterne hoch, um die Worte zu lesen, die in eins der Steinbücher eingraviert
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