Verhext
einem nahegelegenen Gehölz erhob. »Was haben wir denn hier?«
Iphiginia erkannte die hohen, schlanken Säulen des Vestatempels. »Das ist die Ruine. Ich habe meine Messungen beendet, als Sie heute nachmittag in Pettigrews Bibliothek waren. Übrigens, haben Sie irgend etwas Interessantes herausgefunden?«
»Nein. Pettigrew benutzt rotes Wachs. In seinem Wachstiegel fanden sich keinerlei schwarze Spuren, und sein Siegel trägt das Emblem eines Hirsches.«
»Wie schade. Haben Sie den Schreibtisch auch genau durchsucht?«
»Ja. Glauben Sie mir, Pettigrew ist nicht der Erpresser.« Marcus wechselte die Richtung, um sich die Ruine anzusehen. »Und, ist dieser Tempel Ihrer Meinung nach eine gute Kopie des Originals in Tivoli?«
Iphiginia seufzte vor Bedauern, daß sie nun auch Pettigrew von
der Liste der Verdächtigen streichen mußte. Dann blickte sie zu der eleganten, luftdurchfluteten Ruine.
Das Mondlicht fiel durch das offene Dach und verlieh ihr ein bezauberndest mystisches Flair.
»Nicht schlecht«, sagte sie nachdenklich. »Er gibt dem Betrachter dasselbe Gefühl von Leichtigkeit wie das Original. Sicher ist Ihnen bereits die wohlproportionierte Anordnung der Säulen aufgefallen. Der Kreis, den sie bilden, hat genau die richtigen Maße.«
»Ach.«
Iphiginia merkte, daß Marcus sie ansah und nicht den Tempel. Seine Augen glänzten in der Dunkelheit. Etwas in seiner leisen, tiefen Stimme verwandelte ihr Blut in warmen Honig.
Sie atmete tief ein und versuchte, möglichst salopp und doch zugleich gelehrt zu klingen. »Man sieht beinahe vor sich, wie die Jungfrauen der Vesta die heilige Flamme hüten.«
»Sie sind offensichtlich wesentlich phantasiebegabter als ich.« Marcus führte sie zwischen zwei der hohen Steinsäulen hindurch, blieb in der Mitte des runden Gebäudes stehen und sah sie mit amüsiertem Interesse an. »Ich bin anscheinend nicht in der Lage, irgendwelche Jungfrauen hierher zu zaubern, aber ich finde die Umgebung trotzdem durchaus anregend.«
Iphiginias Mund war wie ausgetrocknet. »Finden Sie?«
»Ja.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine starken Hände. »Der Name Lady Starlight paßt zu dir, Iphiginia. Du bist geboren, um eingehüllt in Sternenlicht durchs Leben zu gehen.«
Sie erschauderte. Ich bin geboren, um dich zu lieben. Plötzlich wallte unendliche Traurigkeit in ihr auf. Höchstwahrscheinlich würde sie ihm diese Worte niemals laut sagen können, weil er sie nicht würde hören wollen.
»Gefällt es dir, die Rolle meiner Mätresse zu spielen, Iphiginia?«
»O ja. Und wie. Als Ihre Mätresse werde ich von allen Leuten bewundert. Ehrlich gesagt, tut es mir wahrscheinlich sogar ein bißchen leid, wenn die ganze Sache vorbei ist.« »Ach ja?«
»Nun, aber zugleich freue ich mich auch etwas darauf«, gestand sie. »Die Sache ist die, daß es ziemlich lästig ist, immer im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Aber ich muß zugeben, daß es wirklich aufregend ist. Fast so aufregend wie meine Reise nach Italien.«
Marcus zog die Brauen hoch. »Fast so aufregend? Es trifft mich tief zu hören, daß es interessanter ist, antike Ruinen zu besichtigen als die Rolle meiner Mätresse zu spielen.«
Iphiginia stellte entsetzt fest, daß sie ihn anscheinend beleidigt hatte. »Ich wollte Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten, Mylord. Ich fand es durchaus interessant, in die Rolle Ihrer Geliebten zu schlüpfen.«
»Aber nicht ganz so interessant wie, sagen wir, eine Besichtigung der Ruinen von Pompeji.«
»Nun, Pompeji ist schließlich Pompeji, Mylord. Nur wenige Dinge können da mithalten.«
»Das stimmt wohl. Aber erlaube mir zu versuchen, dein momentanes Abenteuer etwas aufregender zu machen.«
Noch ehe Iphiginia antworten konnte, versiegelte er ihren Mund mit seinen Lippen. War es der Mondschein oder die Hitze seines Körpers? Plötzlich schien Iphiginia vollkommen in Flammen aufzugehen.
Kapitel zehn
Dies war der richtige Ort, die richtige Zeit, der richtige Mann.
Iphiginia war vollkommen verloren in dem herrlichen Wunder dieser Erkenntnis. Es war, als habe sie die Fesseln ihres ruhigen Lebens in der Verbannung in Deepford abgestreift und ihr Leben völlig verändert, nur um sich auf diesen Augenblick vorzubereiten.
Sie war frei. Frei von den Verpflichtungen gegenüber ihrer Schwester, frei von den erstickenden Regeln ihres kleinen Heimatdorfes, frei von den neugierigen Blicken mißbilligender Nachbarn.
Im Verlauf des letzten Jahres hatte sie sich selbst gefunden, und
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