Verico Target
zur
Bundeshaftanstalt in Boston hatte er den Eindruck, die ganze Stadt
wäre plötzlich grau geworden. Es gab einfach keine andere
Farbe mehr. Sein Magen fing an zu knurren, und da fiel ihm ein,
daß er seit dem Abendbrot am Vortag nichts gegessen hatte. Er
bog zu einem McDonald’s ein, bestellte einen Big Mac und rief
Felders vom Münztelefon im Lokal aus an. Am nächsten Tisch
warfen einander vier Teenager, zwei Pärchen, Beleidigungen und
Pommes frites an den Kopf. »Mann, das ist stark!« lachte
eines der Mädchen. Sie sah aus wie Molly Lederer in drei, vier
Jahren.
»Marty? Robert. Hat sich Dolling gemeldet?«
»Er und Mrs. Kozinski sind auf dem Weg zur Haftanstalt. Mit
dem Papierkram hat es eine Verzögerung gegeben. Irgend was von
Lederer?«
»Nein. Er schützt seine Familie.«
»Vorladung unter Strafandrohung?«
»Als allerletztes Mittel. Ich glaube, er würde nicht
einmal dann reden. Was hat Natalie von Jeanne Cassidy
erfahren?«
»Nichts. Sie hat sich nach irgendeiner Vorlesung an sie
herangemacht, und die beiden haben drei Stunden lang miteinander
geredet. Natalie ist überzeugt davon, daß
›Cadoc-Verico-Cadaverico‹ alles ist, was Cassidy
weiß. Die Kleine hat dich nur angerufen, um ihr Gewissen zu
beruhigen, und sie ist vermutlich genauso verängstigt wie
Lederer, aber mehr als die drei Worte hat sie nicht für uns,
denkt Natalie.«
»Okay. Ich bin auf dem Weg ins Verwaltungszentrum. Marty
– können wir jetzt einen EVOK-Status kriegen?«
»Sie haben immer noch kein Verbindungsglied zu Verico, Bob.
Sie haben Straftaten, aber keine Organisationsstruktur.«
»Aber wenn Duffy…«
»Finden Sie erst das Verbindungsglied zu Verico. Vielleicht
existiert es«, sagte Felders und legte auf. Cavanaugh wurde
klar, daß dies die einzige Anerkennung war, die er dafür
bekommen würde, daß er auf einer Bewachung Judy Kozinskis
bestanden hatte. Als Entschuldigung ebenso beschissen wie alles
andere.
Seine Nase lief, und er entdeckte, daß er kein Taschentuch
bei sich hatte. Verdammt, nicht noch ein Schnupfen! Warum kriegten
ihn manche Leute so leicht und andere wurden überhaupt niemals
krank?
Marcy war überhaupt nie krank.
Er schneuzte sich in eine Papierserviette und dachte daran, Marcy
anzurufen. Es war nach fünf Uhr, sie würde schon zu Hause
sein. Nein, kein Anruf. Sie wollte nicht, daß er anrief. Also
würde er es sein lassen.
Er ging zurück zu seinem Tisch und starrte seinen Big Mac an,
der jetzt gewiß schon lauwarm war. An dem Teenagertisch
fütterte einer der Jungen eines der Mädchen mit Pommes. Das
Neonlicht spiegelte sich in ihrem glänzenden Haar. Cavanaugh
hatte Kopfweh. Sein Nacken schmerzte. Seine Zeugen wurden
ermordet.
Er ging zurück zum Telefon und tippte die Nummer ein. Nach
dem dritten Klingeln sagte der Anrufbeantworter mit einer
männlichen Stimme: »Hallo! Im Moment sind weder Marcia
Gordon noch Hal Clark zu sprechen, aber wenn Sie nach dem Pfeifton
eine Nachricht hinterlassen, werden wir Sie sobald wie möglich
zurückrufen.«
Cavanaugh hängte den Hörer ein und starrte die Wand an.
Hal Clark. Marcys Boss.
Er ging zwischen den Tischen hindurch an seinem Big Mac vorbei und
hinaus zu dem Mietwagen, mit dem er zur Bundeshaftanstalt in Boston
unterwegs war.
Judy
saß auf dem Beifahrersitz von Agent Dollings’ zivilem
Dienstwagen. Dollings lenkte mit ernster, konzentrierter Miene und
blickte des öfteren in den Rückspiegel und damit auf das
Polizeifahrzeug, das ihnen folgte. War das Polizeifahrzeug eine
›Eskorte‹ – was sich anhörte wie etwas, das
Diplomaten bei ihren Staatsbesuchen zugeteilt bekamen – oder
einfach nur ›Begleitschutz‹? Judy kannte die richtigen
Worte für diese Situation nicht, und das störte sie; sie
war doch Journalistin, sie sollte in jeder Situation die richtigen
Ausdrücke auf Lager haben!
Da wurde ihr klar, daß sie sich in einer Art
verzögertem Schockzustand befand.
Dollings hörte nicht auf, in den Rückspiegel zu schauen.
Machten ihn die Polizisten da hinten so mißtrauisch, oder
rechnete er erneut mit Gefahr?
Ihre Hände quetschten die Handtasche auf ihren Knien so
stark, daß der Verschluß aufsprang. Judy stopfte
Geldbörse, Make-up-Täschchen und Papiertaschentücher
wieder hinein und stellte die Tasche auf den Boden. Dann
verschränkte sie die Finger ineinander und legte die Hände
in den Schoß.
Dollings sagte: »Ist alles in Ordnung, Madam?«
»Nein, nichts ist in Ordnung. Gerade hat jemand versucht,
mich
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