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Verico Target

Verico Target

Titel: Verico Target Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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war nicht Sommer. Schmutzige Schneehaufen türmten
sich auf der Fläche vor dem Bau, und auf dem Besucherparkplatz
standen Reihen von Schulbussen. Plötzlich hoben sich die dumpfen
Schleier von Judys Hirn.
    Sie stieg die Stufen zum Parlament empor und betrat das
Gebäude. Und dort, zu den Statuen und Porträts der
Dorischen Halle hinaufstarrend, fand sie, womit sie gerechnet hatte:
Zahllose Gruppen von Schulkindern, die die Hauptstadt ihres
Bundesstaates kennenlernen sollten. Judy suchte sich eine Gruppe von
Kindern aus, die unter zehn und größtenteils weißer
Hautfarbe waren, die größtenteils keine Jeans anhatten,
größtenteils Stadtchroniken in der Hand hielten und
größtenteils müde aussahen. Die nicht aus der Stadt
stammten. Jeder Landkreis im ganzen Staat schickte seine siebenten,
achten oder neunten Klassen einmal in die Hauptstadt, um sie dort an
den historischen Gedenkstätten des kolonialen und
revolutionären Boston vorbeizutreiben. Und der Staat
Massachusetts war klein genug, um daraus einen Tagesausflug zu
machen. Jedes Jahr einmal hatte Judys Vater sich als freiwillige
Begleitperson zu einem ähnlichen Besuchsprogramm für
Saratoga oder Fort Ticonderoga zur Verfügung gestellt. Seine
Anwesenheit hatte stets einen wohltuend beruhigenden Einfluß
auf die überreizten Kinder gehabt.
    In der Flaggenhalle schubsten zwei kleine Jungen einander mit
blutrünstigen Mienen und sehr wenig Effekt. »Hau ab, du
Arsch!«
    »Selber Arsch!«
    Energisch schritt Judy ein und packte je einen der beiden am
Arm.
    »He! Ihr wißt doch, was der Direktor darüber
gesagt hat, wie ihr eure Schule in Boston repräsentieren
sollt!«
    Die beiden Jungen starrten sie wütend an, machten aber keine
Anstalten, jetzt ihre Angriffslust gegen Judy zu richten. Ja,
Landkinder. Sie hoffte, es war ein ferner Landkreis.
    »Und nun bleibt ihr beide bei mir, bis wir wieder bei den
Bussen sind!«
    Leise und trotzig vor sich hinmurmelnd gehorchten sie. Die Gruppe
trottete durch den Rest der Führung, die beinahe zu Ende war.
Unauffällig besah Judy sich die Erwachsenen und faßte eine
Mutter, die als Begleitperson agierte, ins Auge. Die Unterscheidung
von den Lehrern fiel ganz leicht – die Lehrer wirkten nicht
annähernd so geschafft wie die Mütter, welche offenbar
etwas anderes erwartet hatten – eine zivilisierte Exkursion zu
den kulturellen Werten des Landes, zum Beispiel. Jene Mutter, die
Judy ausgewählt hatte, starrte angestrengt um sich; sie war
schick zurechtgemacht, aber nicht nur äußerst nervös,
sondern dazu noch äußerst kurzsichtig. »Unglaublich,
diese verrückte Hetzerei, nicht wahr?« sagte Judy zu
ihr.
    Die Frau lächelte. »Ich nehme an, das ist Absicht, damit
sie richtig müde werden. So müde, daß sie im Bus dann
einschlafen.«
    »Also bei mir wirkt die Methode. Ich bin geschafft.
Wie geht’s Ihnen?«
    Die Frau bekam einen verlegenen Gesichtsausdruck, der vermutlich
bedeutete, daß sie sich nicht entsinnen konnte, wer Judy war,
aber meinte, es wäre eigentlich ihre Pflicht. »Tut mir
leid, ich erinnere mich nicht…«
    »Sally Carter. Johns Mutter. Ich bin in letzter Minute
eingesprungen, weil jemand krank wurde. Heute früh war ich in
einem anderen Bus, aber der Exkursionsleiter…«
    »Mister Perkins?«
    »Ja, er bat mich, in diesen überzuwechseln, weil…
nun ja!« Sie verdrehte die Augen und deutete mit dem Kinn auf
die beiden Jungen, die sie immer noch an den Handgelenken
gefaßt hielt.
    Die Frau lachte. »Ah ja! Ich bin Ann
Browning.«
    »Ich weiß, wir haben uns schon kennengelernt«,
sagte Judy, und wiederum sah ihr Gegenüber verlegen drein.
    Während der letzten halben Stunde, die von dem Nachmittag
noch übrig war, führte Judy eine harmlose Unterhaltung mit
Ann Browning, und als sie auf dem Parkplatz angekommen waren,
kletterte sie hinter ihr in den Bus.
    Der Busfahrer hielt eine Namensliste in der Hand und runzelte die
Stirn. »Ich habe keine Sally Carter hier…«
    »Oh, Mister Perkins hat das so eingeteilt«, sagte Ann
Browning rasch, wohl um den Umstand wiedergutzumachen, daß sie
Sally Carter vorhin nicht erkannt hatte. »Zur Verstärkung
der Wachen.« Sie zwinkerte doch tatsächlich!
    Aber dem Busfahrer war die Sache ohnedies gleichgültig, und
so nickte er nur.
    Als alle ihre Sitze eingenommen hatten, kletterte noch ein gehetzt
wirkender junger Mann – Mister Perkins – an Bord und nahm
eine Zählung vor. Judy tat so, als wäre ihr etwas zu Boden
gefallen und duckte sich, um danach zu

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