Verico Target
Gehsteig. Und
wenn sie sich nicht so tief nach vorn gebeugt hätte, gerade in
dem Moment…
Der zweite Polizist rannte weg vom Wagen und direkt in die
Menschenmenge hinein. Wonach suchte er dort? Nach dem Killer? Nach
Zeugen?
Alles war so schnell geschehen. Jetzt begannen offenbar
alle Fahrer zu hupen, verärgert über den einen Wagen, der
den Verkehr blockierte. Fahrzeuge scherten aus und zogen links und
rechts vorbei; anscheinend hatte niemand bemerkt, was vorgefallen war
– oder die Leute scherten sich einfach nicht darum. Dollings
fuhr fort, Judy ernst anzustarren, das Hirn von einer Kugel
durchlöchert.
Beide Polizisten hatten sie allein gelassen und sich auf die Suche
nach dem Mörder gemacht. Doch was, wenn dieser noch hier war,
oder wenn es zwei waren? Was, wenn…
Ungeachtet des vorbeiströmenden Verkehrs stieß Judy die
Beifahrertür auf. Ein grüner Mercedes, der rechts
vorbeifuhr, hupte wütend. Judy sah die Lenkerin ganz deutlich,
mit einer so übernatürlichen Klarheit, daß ihr
schien, sie würde sich an diese Frau bis an ihr Lebensende
erinnern: über vierzig, geometrisch exakt geschnittenes
kastanienbraunes Haar, Wollmantel in einem schönen Dunkelblau,
der Sitz neben ihr belegt von Einkaufstaschen mit dem Aufdruck
›Jordan Marsh‹. Sie trug Perlenohrgehänge. Ihr grauer
Lidschatten war verschmiert.
Judy schoß zwischen den Fahrzeugen hindurch und auf den
Gehsteig. Ein paar Leute sahen sie neugierig an, aber noch hatte sich
kein Menschenauflauf gebildet. Diese Leute wußten noch nicht,
was geschehen war. Sie gingen an Dollings’ Wagen vorbei, ohne
sich darum zu kümmern, und bewegten sich in einem
gleichmäßig dahinfließenden Strom weiter. Judy
bewegte sich mit ihnen.
Sie ließ sich von der Menge weitertragen und blieb dabei
immer in der unmittelbaren Nähe von Personengruppen, ohne sich
ihre Handlungsweise bewußt zu überlegen: nur weg von
Dollings; nur inmitten ganz normaler Leute sein, ohne aufzufallen.
Ein Block, zwei. Sie warf keinen Blick zurück.
Als sie bemerkte, in welcher Richtung sich die Menge fortbewegte,
blieb sie abrupt stehen. Zur U-Bahn-Station beim Verwaltungszentrum.
Nein. Dorthin hatte Dollings sie bringen wollen, dort erwartete man
sie… Was machte sie überhaupt auf der Straße? Sie huschte in das nächste Gebäude.
Doch das war noch schlimmer. Die langen, leeren Korridore, die
geschlossenen Bürotüren, jede mit glänzenden
Goldbuchstaben beschriftet und mit Sicherheitsschlössern
versperrt… Es mußte für jedermann auf den ersten
Blick ersichtlich sein, daß sie nicht hierher gehörte. Sie
fiel auf. Und das Gebot der Stunde, sagte die zweite Judy, ist, nicht aufzufallen. Sie verließ das Gebäude und
mischte sich wieder unter die Fußgänger auf dem
dichtbevölkerten Gehsteig. Aber sie wollte weder zum Zentrum
noch zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, also bog
sie um eine Ecke und schloß sich der Prozession an, die
Richtung Westen unterwegs war. Sie bemühte sich, ganz genauso
auszusehen wie die anderen Frauen: sie paßte ihre Schritte
denen der anderen an, warf die gleichen kurzen, peinlich
berührten Seitenblicke auf die Bettler, trug ihre Handtasche
ebenso…
Sie hatte ihre Tasche in Dollings Wagen gelassen!
Bei dieser Erkenntnis brach sie beinahe zusammen. Aber da sagte
die zweite Judy: Ruhig bleiben. Damit wirst du fertig. Und sie
marschierte weiter. An der nächsten Ecke betrachtete sie die
Straßenschilder. Drei Straßen liefen zu einer
verkehrsreichen Kreuzung zusammen: Somerset, School und Beacon. Sie
bog in die Beacon Street ein.
Sie hatte kein Geld. Keine Bankkarte. Keine MasterCard. Sie konnte
weder ein Taxi, noch den Bus und auch kein Hotelzimmer nehmen. Sie
konnte nirgends unterschlupfen. Und irgend jemand mochte immer noch
nach ihr Ausschau halten. Sie marschierte weiter.
Zu ihrer Rechten ragte das Parlamentsgebäude auf. Über
dem neoklassizistischen Bau schwebte – riesiggroß, aber
gewichtslos wirkend – Charles Bulfinchs vergoldete Kuppel. Das
Kupfer der Hülle stammte aus der Schmiede von Paul Revere,
entsann sich Judy plötzlich und unsinnigerweise; und
während des Zweiten Weltkrieges war die Kuppel grau gestrichen,
um nicht die Aufmerksamkeit der deutschen Luftwaffe – die nie
kam – auf sich zu lenken. Judy wußte, daß sie in
diesem Moment nicht an solche Dinge denken sollte. Aber ihr Hirn
arbeitete nicht, wie es sollte. Im Sommer war das
Parlamentsgebäude von einer üppigen Blumenpracht umwuchert,
aber jetzt
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