Verico Target
es ist heiliger
Boden für sie.«
Sarkastisch merkte Judy bei sich an, daß er sich diesen
ermutigenden Hinweis aufgehoben hatte, bis er sicher war, seine
vierzig Dollar in der Tasche zu haben. Sie öffnete die Tür
des Fahrerhauses. »Ich will nicht in das Anwesen hinein. Ich
sehe mich nur ein wenig um. Warten Sie hier auf mich, aber lassen Sie
die Scheinwerfer eingeschaltet.«
»Sie sagten, nur eine Stunde Arbeit. Sie haben noch genau
achtunddreißig Minuten. Alles in allem.«
»Ganz recht«, nickte Judy.
Ihre Stiefel knirschten auf dem gefrorenen Schnee. Sie marschierte
bis auf die halbe Distanz zwischen Wagen und Tor, immer genau im
hellerleuchteten Pfad eines Scheinwerferstrahls, und blieb dann
stehen.
War es da drinnen, das, was ihren Mann getötet hatte? Oder
gab es zumindest eine Verbindung zu den Leuten hier? Cadoc.
Verico. Cadaverico. Cadillac Biotech Tod. Sie konnte nicht in die
Siedlung hinein, doch es wäre ohnedies ein gefährliches
Unterfangen gewesen, unter Umständen selbstmörderisch. Ihr
einziger Schutz bestand darin, daß diese Leute nicht
wußten, daß Judy hier in der Kälte stand und sie
anstarrte.
Was anstarrte? Die Verbindungen zu diesem Anwesen, die Judy
in ihren Überlegungen hergestellt hatte, waren
möglicherweise nichts als Illusion, eine Fata Morgana, die nur
in ihrem Hirn existierte, weil das menschliche Hirn eben nach
Verbindungen, Erklärungen verlangte. Weil es sich mit aller
Kraft wünschte, einen Sinn zu erkennen, wo kein Sinn war. Und
sie mochte wohl ebenso verblendet sein wie die Streiter des
göttlichen Bundes, deren religiöse Überzeugung zwar
bizarr schien, die zu ihrer Verteidigung jedoch – wenn man den
Zeitungen glauben durfte – immerhin keine Feuerwaffen
verwendeten, sondern Zäune, Isolation und Verachtung. Welche
Verbindung konnte also bestehen zwischen ihnen und demjenigen, der
Ben getötet hatte? Und was, zum Teufel, wollte sie, Judy
O’Brien Kozinski, von den Leuten, vor deren öder Siedlung
sie jetzt stand?
Ich will Antworten.
Aber etwas anderes noch mehr. Etwas, das nach den Antworten
kam.
Judys Augen weiteten sich. Sie hatte es soeben erkannt. Antworten
– ja; aber etwas anderes noch mehr: den Grund dafür,
daß sie so verzweifelt nach diesen Antworten suchte. Fünf
Monate nach seiner Ermordung wollte sie Bens Tod hinter sich bringen
und damit beginnen weiterzuleben.
»Hinter sich bringen« – zuvor hatte sie nicht
einmal gewußt, was diese Worte bedeuten sollten. Ben war doch
immer noch neben ihr, immer noch eine greifbare Gegenwart,
wenn sie ihr Frühstück aß, durch den Supermarkt
schlenderte, ihren Wagen fuhr, sich auszog, um zu Bett zu gehen. So
war es gewesen, seit dem Abend, als er von Verico nach Hause gekommen
war. Immerzu neben ihr, an sie geklammert, an ihr zerrend: Ben, Ben,
Ben.
Das einzige Mal, daß sie sich frei von ihm gefühlt
hatte, war in jenem kurzen Augenblick gewesen, nachdem ein bezahlter
Killer versucht hatte, sie zu ermorden, gescheitert war und sie diese
intensive Körperlichkeit gefühlt hatte, geboren aus der
Erkenntnis, noch am Leben zu sein. Doch was für ein Leben war
das, wenn man sich nur im Angesicht des Todes lebendig
fühlte?
Aber sie war lebendig; es war Ben, der tot war. Und nun
wollte Judy seinen Tod hinter sich bringen und weiterleben. Nur ein
paar Schritte, anfangs, ein paar Schritte weg von dem
niederdrückenden Gewicht aus Trauer und Verzweiflung. Und dann
wieder ein paar Schritte. Und schließlich würde er
hinter ihr liegen, genauso wie ihre Mittelschul- und Studienjahre
hinter ihr lagen: Bilder, die sie immer noch klar und deutlich vor
sich sehen konnte, wenn sie sich umdrehte und nach ihnen Ausschau
hielt – manche von den Bildern lieb und teuer, aber eben nur
Bilder und nicht Zeiten, denen sie sich wieder zuwenden und die sie
berühren konnte, wie sehr sie es auch wünschte.
Unwiederbringlich dahin. Nur mehr passive Erinnerung.
Ihre Liebe zu Ben war trotz seiner häufigen Untreue etwas
Reales gewesen, und diese Liebe schwand nicht dahin. Ihre Farben
strahlten immer noch klar und hell. Aber Judy wollte davon wegkommen,
weil diese Liebe unbeweglich in der Zeit festsaß – und sie
selbst nicht.
Doch sie konnte es nicht schaffen, ohne herauszufinden, was
tatsächlich mit Ben geschehen war. Sie brauchte Antworten, um
diese Antworten hinter sich lassen zu können. So war sie, Judy
Kozinski, eben gemacht.
Sie mußte herausfinden, ob die Antworten im Inneren dieses
umzäunten Anwesens lagen.
So
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