Verico Target
stand sie noch eine Sekunde länger da und starrte die
undeutlichen, trostlosen Umrisse der Siedlung der Streiter des
göttlichen Bundes an. Dann machte sie einen Schritt
vorwärts. Und noch einen. Jetzt konnte sie einen Klingelknopf
auf einem der Pfeiler erkennen. Sie warf einen Blick zurück zu
dem Laster des Jungen, der zwischen den Bäumen am Waldrand
stand.
Dann drehte sie sich um und stapfte entschlossen auf den
Klingelknopf zu.
Sie hatte erst ein paar Schritte getan, als eine Explosion und
Schüsse die nächtliche Stille zerrissen; sie ließ
sich sofort zu Boden fallen.
Judy bedeckte sich den Kopf mit den Händen und wollte auf dem
Bauch Richtung Laster kriechen, aber der Junge wartete nicht auf sie.
Sie hörte, wie der Motor aufheulte, sah den langgezogenen
Scheinwerferkegel in eine andere Richtung schwenken, und im
nächsten Moment wendete der Laster und holperte über den
Feldweg in den Wald. Sie wagte es nicht, sich aufzurichten und ihm
nachzulaufen, denn wiederum ertönten Schüsse in der
Siedlung, und sie hörte das Rat-tat-tat, von dem sie aus dem
Fernsehen wußte, daß es von einer automatischen Waffe
stammte.
Sie schrie auf, doch im nächsten Moment hatte sie die
Beherrschung wiedergefunden; ruhig, sagte sie sich, sie
„mußte ruhig bleiben, um denken zu können, um
vernünftig zu reagieren, um aus dem ganzen lebendig
herauszukommen. Lebendig. Sie wollte am Leben bleiben, wollte noch
nicht sterben, überhaupt nie sterben… Vater unser, der
Du bist im Himmel…
Das Tor des Anwesens öffnete sich, und zwei Männer
rannten heraus. Judy machte den Versuch, in der Erde zu versinken.
Konnten sie sie sehen? Ihre Kleider waren dunkel, aber falls irgendwo
Flutlicht eingeschaltet wurde…
Auf die Ellbogen gestützt kroch sie aus der Umgebung des
Tores weg, aber Flutlicht würde weit mehr als nur die Umgebung
des Tores beleuchten… möglicherweise fand sie in
unmittelbarer Nachbarschaft des Zaunes, dicht unter den gespannten
Stacheldrähten, sogar so etwas wie Deckung. Und weiter
drüben zog sich der Wald bis fast an den Zaun – wenn sie
dorthin gelangen konnte, wo die Bäume nah am Zaun standen…
Noch keine Lichtstrahlen, aber wiederum Schüsse. Plötzlich
loderte Feuer zum Himmel.
… geheiliget werde Dein Name…
Sie befand sich schon ganz nah am Zaun, als die Flutlichter
aufflammten. Wieder rannten Menschen aus dem Tor. Judy rollte sich
ganz dicht an den Zaun, wobei sich ihr Ärmel am Stacheldraht
verfing und einriß.
Es hätte ihr Gesicht sein können…
Sie zerrte daran, bis er frei war, sprang auf und rannte direkt am
Zaun entlang, in der Hoffnung, daß er ausreichend Deckung bot.
Vor ihr war die Stelle, wo die Bäume hart bis an die Grenze der
Siedlung rückten. Ein Stückchen noch, ein kleines
Stückchen…
… Dein Königreich komme…
Der Zaun war aufgeschnitten.
Judy blieb stehen und starrte ihn an. Alle Stränge waren mit
einer Drahtschere durchschnitten, die noch auf dem Boden lag. Daneben
sah sie einen Metallstab, der ins Erdreich gerammt war, und von dem
ein Draht zu drehbaren Klemmen lief, die am Zaun steckten. Es war ein
elektrischer Zaun, den jemand geerdet hatte! Irgend jemand war in das
Anwesen eingedrungen!
Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie alles gesehen hatte, dann
rannte sie bereits weiter über den hellerleuchteten Streifen
zwischen Zaun und Wald, während drinnen in der Siedlung wiederum
geschossen wurde und sie damit rechnete, jeden Moment mit einer Kugel
im Rücken hinzufallen.
… Dein Wille geschehe…
Niemand schoß auf sie.
Und unter den Bäumen stand ein zerbeulter alter Wagen.
Judy starrte ihn an, als wäre er das siebenköpfige
Monster von Babylon, ehe sie näher trat und die Fahrertür
aufriß. Kein Zündschlüssel. Sie schluchzte laut auf.
Warum hatte sie nicht schon längst gelernt, einen Motor
kurzzuschließen? Und was hatte sie überhaupt hier zu
suchen, wo man auf sie schoß – so, als würde sie tatsächlich wissen, worauf sie sich eingelassen hatte!
Sie verdiente es zu sterben, sie war so dumm.
…im Himmel wie auf Erden…
Im Wagen war ein Telefon.
Ihre plötzliche Panik verflog. Mit einemmal verspürte
sie eine eiskalte Ruhe, eine tödliche Ruhe. Sie beugte sich in
das Wageninnere; der Lichtstrahl aus dem Anwesen, der durch die
Bäume fiel, reichte nicht aus, um die einzelnen Ziffern
auszumachen, aber Judy kannte ihre Anordnung, auch ohne sie zu sehen.
Sie drückte 911, den Polizeinotruf.
»Hallo? Mein Name ist Judy Kozinski. Auf dem
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