Verico Target
sein, draußen vor den
schwarzen Verdunkelungsvorhängen der Hütte, oder wiederum
klirrend kalte Nacht.
Saralinda lebte immer noch. Aber der Puls an ihrem Handgelenk war
praktisch nicht mehr zu fühlen; um das leise Pochen ihres Lebens
noch zu spüren, mußte Judy es an Saralindas Hals ertasten.
Und was ihr noch schlimmer schien: Saralindas Hände waren nun
immerzu kalt und hatten bräunliche Flecken bekommen; ihr Atem
kam pfeifend. Die Kinder neben ihr schliefen unruhig.
An der gegenüberliegenden Wand saß Botts aufrecht auf
einem Stuhl und döste; der Revolver lag auf seinen Knien.
Judy erhob sich von ihrem Stuhl neben Saralindas Bett und schlich
auf Zehenspitzen hinüber. Noch zwei Meter, noch einen – nur
noch einen Schritt! Sie beugte sich hinab und streckte langsam die
Hand nach der Waffe aus.
Botts öffnete die Augen.
Sie hielt nicht inne in ihrer Bewegung, beugte sich weiter hinab
und bemühte sich, ihren Gesichtsausdruck nicht zu
verändern, bis ihre Hand auf seiner Schulter zu ruhen kam und
sie neben ihm auf den Fersen hockte und ihm direkt in die Augen sah.
»Mister Botts, ich meine, wir müßten Saralinda zu
einem Arzt bringen.«
Aber er ließ sich nicht täuschen. »Rühren Sie
mich noch mal an oder dieses Ding hier, und ich bringe Sie auf der
Stelle um!«
Das konnte sie einfach nicht glauben. Er würde sie nicht vor
seinen Kindern erschießen, auch dann nicht, wenn sie schlafend
neben ihrer Mutter lagen. Aber so ganz zweifelte sie auch nicht
daran. Er konnte sie ja nach draußen bringen und im Wald
erschießen oder sie ganz einfach irgendwo, wo die Kinder sie
nicht sahen, festbinden und erfrieren lassen. Dazu mochte er durchaus
fähig sein. Er sah nicht so aus, wie er so übermüdet
und ausgelaugt dasaß auf seinem Stuhl, das Gesicht eine Maske
des Schmerzes – aber er mochte dennoch dazu fähig sein.
Schließlich war er auch in die Siedlung einer religiösen
Gruppe gestürmt und hatte dort etliche Leute umgebracht.
Sie wiederholte, als hätte er nicht soeben eine Drohung
ausgesprochen: »Wir müssen Saralinda zu einem Arzt bringen!
Ich kann die Kugel nicht entfernen – Krankenschwestern werden
nicht zum Operieren ausgebildet. Wir brauchen einen
Krankenwagen.«
»Sehen Sie bloß zu, daß sie bis heute abend
durchkommt.«
»Warum? Was passiert heute abend?«
»Sehen Sie einfach zu, daß sie’s bis dahin
schafft.«
Da würde wohl jemand kommen, um sie alle zu holen. Der Wagen
lag auf dem Grund des Sees, also mußte er mit jemandem ein
Treffen hier verabredet haben. Zu diesem Zeitpunkt, vierundzwanzig
Stunden nach der Entführung, würden die Behörden
möglicherweise nicht mehr damit rechnen, daß er sich noch
in diesem Gebiet aufhielt. Oder vielleicht kamen zwei Fahrzeuge, um
die Kinder zu trennen. Man würde nach einem Mann und zwei
Kindern suchen. Und wenn daraus eine Frau mit einem Kind wurde oder
ein Paar mit einem Kind…? War er so klug? Wie auch immer, keiner
dieser Pläne würde sie, Judy, mit einschließen.
In diesem Moment würde er sie loswerden, nachdem sie ihren
Zweck erfüllt und für Saralinda gesorgt hatte.
»Ich fürchte nur, daß sie es ohne ärztliche
Behandlung nicht… nicht schafft.«
»Sagen Sie das nicht!« heulte er auf; es war ein echter
Aufschrei, ein so verzweifelter Protest, daß Judy
zurückfuhr. »Sie wird nicht sterben!«
»Nein, nicht, wenn wir…«
»Sie wird nicht sterben!«
Glaubte er, wenn niemand diese Eventualität laut aussprach,
dann wäre sie nicht mehr vorhanden? Vielleicht.
Botts sagte: »Gehen Sie bloß wieder rüber und
kümmern Sie sich um sie! Und wehe, wenn Sie versuchen, sich
heimlich davonzuschleichen!«
So verrückt war Judy denn doch nicht. Er hatte alle
Mäntel in dem Holzschrank eingesperrt, aus dem er den Whiskey
genommen hatte, und der Schlüssel steckte in seiner Hosentasche.
Judys Seidenbluse mochte in der warmen Hütte reichen, aber nicht
für einen Winterspaziergang durch die Adirondack Mountains. Und
wenn sie die Decken vom Bett nahm, würden die Kinder
aufwachen.
Was sie ohnehin taten, eine Stunde später.
»Mami?«
»Mami ist noch krank, Penny. Laß sie schlafen. Komm,
wir wollen uns etwas zu essen nehmen.«
»Ich muß aufs Klo.« Sie sagte es ohne Hoffnung, zu
verängstigt, um auch nur zu weinen.
Botts sagte: »Ich gehe mit ihr.«
In derselben Sekunde, als die Tür sich hinter den beiden
schloß, setzte Judy sich in Bewegung. Sie durchsuchte die
Hütte nach einer weiteren Schußwaffe, nach einem
Glasscherben,
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