Verico Target
unheimlich gewesen war, daß er beim heiligen Cadoc
gehofft hatte, es würde ihm nie mehr passieren. Natürlich
war er damals betrunken gewesen. Aber jetzt war er nicht betrunken,
und er befand sich auch nicht bei irgendeiner überdrehten Messe.
Diesmal war sein Motiv ein ganz konkretes – und ein gutes.
Wendell drückte auf die Aus-Taste der Fernbedienung. In die
plötzliche Stille hinein flüsterte er:
»Danke.«
Dann schlüpfte er in seine Wolljacke, um sich
anständiges Papier kaufen zu gehen. Dafür reichten
Postkarten nicht aus. Für die Regierung waren Postkarten gut
genug, aber hierfür nicht. Er hatte eine wichtige Sache
mitzuteilen, eine echte Story – eine Story, von jener
höheren Macht, die die Anonymen Alkoholiker immer im Munde
führten, direkt an das Fernsehen gerichtet. Und dafür
brauchte er gutes, schweres Papier, elfenbeinfarbenes Papier von der
Sorte, die kleine gänsehautartige Unebenheiten an der
Oberfläche hatte. Und einen neuen Kugelschreiber mit schwarzer
Tinte.
Denn das war seine letzte legale Chance.
Um
3 Uhr 27 wachte Judy Kozinski auf. Sie hatte Angst.
Das war nichts Neues. Sie wachte jede Nacht zwischen 3 Uhr 15 und
3 Uhr 45 auf und sie hatte immer Angst. Die Angst war etwas
Öliges, Zähflüssiges wie schwarzer Teer, der ihr in
Brust und Bauch glitt. Das Atmen schmerzte.
Sie hatte keine Angst zu sterben, wie Ben gestorben war. Ganz im
Gegenteil, es gab Momente in den kalten Stunden vor dem Morgengrauen,
in denen sie dachte, daß das Sterben eine Erlösung sein
könnte. Dann wäre alles vorbei: der Schmerz über den
Verlust und die entsetzliche Angst. Es war auch nicht die Angst vor
dem Alleinsein, denn sie war nicht allein. Sie befand sich in
ihrem Elternhaus und lag in dem Bett, in dem sie als Kind und als
junges Mädchen geschlafen hatte, wohlig eingehüllt in die
Fürsorge ihrer Mutter und die ernste, besinnliche
Ausgeglichenheit ihres Vaters. Sie war seit mehr als zwei Monaten
hier. Sie war nicht allein.
Wovor hatte sie also Angst? Nacht für Nacht stellte sie sich
diese Frage und bemühte sich, das zu tun, was ihr Vater ihr
geraten hatte, nämlich nicht zu kneifen und sich dem zu stellen,
was ihr am meisten Angst machte. Sobald du dich ehrlich und ohne dir
etwas vorzumachen damit auseinandergesetzt hast, ist es nur noch halb
so schlimm, hatte er milde erklärt. »Das ist es, was Jesus
gemeint hat, als er sagte: ›Fürchte nicht, und es wird
nichts Verhülltes geben, was geoffenbart wird, und nichts
Verborgenes, was ans Tageslicht kommt.‹ Und Carl Jung meinte
dasselbe, als er sagte: ›Neurose ist stets ein Ersatz für
legitimes Leiden.‹ Ersetz es nicht, Liebes. Schau der Furcht ins
Auge, und die Furcht wird nachlassen.«
Also bemühte sich Judy, das zu tun. Sie versuchte es
wirklich. Sie versuchte, auf ihren Vater zu hören und das zu
tun, wozu er ihr riet, ohne sie zu drängen.
Sie wollte aufhören, um 3 Uhr 27 aufzuwachen; sie wollte
aufhören, wie ein lebender Leichnam durch ihre Tage zu wandeln;
sie wollte aufhören, sich zu fühlen, als hätte jemand
in ihre Brust gegriffen und ihr das Herz aus dem Leib gerissen. Sie
wollte sich wieder wohl fühlen. Also bemühte sie sich, auf
Vaters Rat zu hören, bemühte sich zu essen, bemühte
sich, die Nacht durchzuschlafen und bemühte sich, all dem ins
Auge zu blicken, was ihr solche Angst machte.
Nur wußte sie nicht, was es war.
Nichts in ihrem ganzen Leben hatte ihr je solchen Schmerz
zugefügt wie Bens Tod – und die schwarze Furcht, die diesem
Tod gefolgt war.
Sie lag reglos da, bis die Leuchtziffern der Uhr auf dem
Nachttisch auf 3:49 sprangen.
Sinnlos. Sie würde erst einschlafen, wenn der Tag graute, und
im November war das spät. Sie setzte sich auf, schaltete die
Lampe ein und fühlte sich augenblicklich schwindlig. Was hatte
sie gestern gegessen? Ein Croissant und eine halbe Banane. Es fiel
ihr schwer, das Essen hinunterzuwürgen, und wenn es gelang, dann
blieb es manchmal nicht drinnen.
»Wenn Sie nicht schlafen können«, hatte der
Psychotherapeut gesagt, zu dem ihre Mutter sie angesichts dieser
besonderen persönlichen Krise geschickt hatte,
»bemühen Sie sich gar nicht darum. Stehen Sie auf und tun
Sie etwas: machen Sie Gymnastik oder schreiben Sie Ihr Tagebuch oder
lesen Sie.« Der Therapeut war ein vernünftiger Mensch, aber
nach ein paar Sitzungen hatte Judy aufgehört hinzugehen, denn an
die Furcht kam er nicht heran.
Wovor hatte sie solche Angst?
Zum x-ten Mal ging sie es im Kopf durch.
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