Verico Target
Zeit, um nachzudenken. Was hatte
sie bis jetzt?
Nicht viel.
Doch irgend etwas war bei Verico vorgefallen, was Ben aus der
Fassung gebracht hatte. Nach seinem Termin dort war er still,
geistesabwesend und nachdenklich gewesen, und das war Ben nur, wenn
er Angst hatte. Sie kannte ihn. Und sie kannte auch ihre eigene
Intuition, das Gespür der Journalistin, das ihr sagte, daß
mit Verico etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. Und die
Intuition des Journalisten sollte man nicht ignorieren.
Sie war doch Journalistin.
Sie war Judy O’Brien Kozinski. Traurig und dünn
geworden, schmerzgequält und haßzerfressen – aber
wieder sie selbst.
Sie war wieder da.
Judy öffnete die Augen, fischte Papier und Schreiber aus der
Tasche und begann, die Namen jener Wissenschaftler zu notieren, an
die Verico mit dem Jobangebot herangetreten sein mochte. Leute, die
einer Stellung gewachsen waren, die Benjamin Kozinski eingenommen
haben könnte. Leute, von denen sie durch ein achtlos
hingeworfenes Wort seitens Bens oder einer anderen Person bei der
Konferenz in Vegas wußte, daß sie einen Jobwechsel in
Betracht zogen.
Leute, die etwas darüber wissen mochten, was ihren Ehemann
umgebracht haben könnte.
Als sie den Fahrer bei der Pennsylvania Station bezahlte, hatte
Judy eine Liste von zwanzig Namen. Sie studierte sie, während
sie langsam die Treppe zum Wartesaal des Amtrak-Zuges hinabstieg. Sie
bemerkte den Mann in dem glatten dunklen Anzug nicht, der seine
Zeitung zusammenfaltete, auf die Uhr sah, seine nichtssagende
Aktentasche in die andere Hand nahm und ihr die Treppe hinunter
folgte.
»Sie
ist was?« fragte Cavanaugh.
»Bei Verico aufgetaucht.« Neymeier hielt die Augen auf
den Bericht in seiner Hand gesenkt, der frisch aus dem Fax gekommen
war. »Heute vormittag. Dachte, das würde Sie
interessieren.«
»Ach du meine Güte. Lassen Sie mich sehen.«
Er studierte den knappen Bericht, übersandt vom letzten in
einer ganzen Reihe von Beobachtern, die dazu abgestellt waren, Verico
diskret zu überwachen, und die Felders seit Anfang Oktober nicht
gewollt hatte. Nicht kosteneffektiv. Andere, wirksamere
Einsatzmöglichkeiten für Außenpersonal. Problematik
einer dauernden unauffälligen Überwachung in einer reinen
Industrie- und Verwaltungsgegend. Keine Rechtfertigung für eine
Inanspruchnahme zusätzlicher Mittel mangels jeglicher
Weiterentwicklung des Falles. Der Chef der Abteilung Patrick Duffy
– ›Duffy, der Pfennigfuchser‹ – stieg Felders auf
die Zehen, und so stieg Felders Cavanaugh auf die Zehen.
Aber Cavanaugh hatte aufbegehrt und sich mit zäher
Verbissenheit an den Fall gehängt, der möglicherweise viel
umfangreicher war, als es auf den ersten Blick schien. Nicht der
einzelne Mord, sondern die Möglichkeit einer Verstrickung des
organisierten Verbrechens in die Biotech-Forschung. Das
heißeste und umstrittenste Forschungsgebiet heutzutage. Nur
eine Intuition. Könnte doch wirklich eine der ganz großen
Sachen werden, das hier, oder? Eine EVOK. Nur Geduld, alles
würde seine Berechtigung haben. Absolute Geheimhaltung unbedingt
Voraussetzung, um nicht die Aufmerksamkeit der Sippschaft zu
erregen.
Cavanaugh hatte den Verdacht, daß Felders die Argumente
ebenso über hatte wie er. Sie bildeten inzwischen eine Art
Hintergrundgeräusch, ein leises, immerzu vorhandenes monotones
Rattern bei den Teambesprechungen. Von denen eine in zehn Minuten
beginnen sollte. Aber wenigstens hatte Felders bislang nicht alles
dichtgemacht. Er wollte Cavanaugh offenbar seine Chance geben.
Und nun war Judy Kozinski bei Verico aufgetaucht, für
siebenundfünfzig Minuten drinnen verschwunden und hinterher von
Eric Stevens in ein Taxi gesetzt worden – der, nach den Worten
des Agenten, ›erregt‹ und ›nervös‹ gewirkt
hatte. Wodurch? Oder, besser, was hatte Judy Kozinski von sich
gegeben, das einen Stevens beunruhigen könnte? Hatte sie ihm
gesagt, daß sie von Ermittlungsbeamten des FBI über Verico
befragt worden war? Oder daß sie selbst gefährliche
Vorgänge bei der Biotechfirma vermutete? Hatte sie bei Stevens
durchblicken lassen – Teufel, hatte sie offen heraus gesagt (sie
erschien Cavanaugh durchaus zu jedwedem hysterischen Ausbruch
fähig) –, daß sie der Meinung war, Verico habe ihren
Mann ermorden lassen und jetzt würde sie es ihnen
heimzahlen?
Falls es sich so verhielt, dann war möglicherweise ihr Leben
in Gefahr. Und die Mafia konnte sich – bisher in der
Gewißheit, daß niemand ein Auge auf
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