Verirrt in den Zeiten
Stoffe befassen. Mag noch soviel Schrifttum
verlorengegangen, zerstört worden sein — ein solch ungeheuerliches
Phänomen wie der Fremde von Ansbach spricht
sich doch weit und breit herum, hält alle Welt in Atem und
wirkt noch fort nach Generationen. Man müßte seinen Spuren,
so sollte man wohl meinen, auf Schritt und Tritt in allen
Schriftwerken zumindest seiner eignen Zeit begegnen —
wenn anders nicht die noch weit mächtigere Brandung des
Dreißigjährigen Krieges jene Begebenheit und ihr Gedenken
überflutete.
So finden wir denn zwei Erklärungen der Lücke, die wir
oben aufgezeigt. Die eine, weniger wahrscheinliche: daß unsere
Quellen den Historikern entgingen. Die andere, glaubwürdige:
daß man sie wohl kennt, doch den Bericht für Fabel
hält — gleich andern Überlieferungen von Zauberei und
Hexenwerk aus jener Zeit.
Zweites Kapitel
T atsächlich klingt in jenem Berichte, merkwürdig verschlungen,
ein Motiv an, welches wir in den Sagen der meisten Völker
des Morgen- und des Abendlandes wiederfinden. Es ist
dies der Gedanke von der Relativität der Zeit.
Was das Gemüt des Menschen als Wahrheit dunkel ahnt,
Jahrhunderte bevor der forschende Verstand sie als Erfindung,
als Entdeckung in die Denkgesetze ordnend einfügt,
das formt die Vorzeit in der Sage zum nebelhaften Bilde, zur
schwankenden Figur. Das große Rätsel, das uns stets umgibt,
die Zeit, blieb bisher ungelöst. Alte Sagen bringen davon
dunkle Kunde und deuten zagend an, daß die Zeit nicht
wirklich ist, nur in der Vorstellung des Menschengeistes besteht.
Epimerides aus Kreta soll siebenundfünfzig Jahre geschlafen
haben.
Bekannt ist die Legende von den Siebenschläfern. Sieben
Jünglinge aus dem Gefolge des Kaisers Decius, die sich heimlich
zum Christentum bekannten, flüchteten in eine Höhle bei
Ephesos. Der Kaiser, ein grausamer Verfolger aller Christen,
ließ die Höhle vermauern und zum Gedächtnis dessen eine
Inschrift in die Mauer meißeln. Die sieben in der Höhle entschliefen
sanft. So verstreichen zwei Jahrhunderte, und die Begebenheit
ist längst verschollen. Ein Landmann will in jener
Höhle seinen Viehstall unterbringen. Er reißt den Eingang
auf und geht. Die sieben Schläfer in der Höhle erwachen und
entsenden den jüngsten, Diomedes, in die Stadt um Nahrung.
Er steigt hinab und sieht verwundert auf allen Toren, allen
Türmen Kreuze in der Sonne leuchten. Das Geld, womit er
zahlt, kennt niemand; es ist zweihundert Jahre alt. Man
glaubt, er habe einen Schatz gehoben, und ergreift ihn. Und
er erfährt, daß Kaiser Theodosius regiere, der sich zum Christentum
bekennt, und daß im ganzen Römerreiche die Lehre
Christi herrsche. Der Kaiser und der Bischof eilen zu der
Höhle. Sie sehen die alte Inschrift, und die Märtyrer bezeugenabermals das Wunder. Dann neigen sie die Häupter und verscheiden.
Die Schweden und die Schotten erzählen von Elfen, welche
Jünglinge zum Tanze locken. Kehrt der Tänzer heim, so findet
er, daß er nicht eine kurze Stunde, daß er Jahrzehnte fort
gewesen.
Der Held der Frankensage ist Ogier le Danois, einer der
Paladine Karls des Großen, der sich mit einer Fee vermählte
und in dem Zauberschloß auf dem Magnetberg wohnte. Die
Krone, die ihm seine Gattin aufsetzt, läßt ihn die Zeit vergessen.
Wie er sie vom Haupte hebt, verlangt es ihn, zu seinem
Herrn, dem Kaiser Karl, zurückzukehren. Doch der ist lange
tot, denn es sind zwei Jahrhunderte vergangen.
Die Lübecker Chronik berichtet, daß ein Mann in einer
Lucke auf dem Turm, von niemandem bemerkt, sieben Jahre
schlief. Bei der Wettenburg flüchtete ein Schläfer vor dem Regen
in eine Höhle und verfiel in einen Schlaf, der siebenmal
sieben Jahre währte. Und bei Trier sollen gar zwei Bauern, die
ein Unwetter in eine Höhle trieb, hundert Jahre lang geschlafen
haben.
Ähnliche Sagen gibt es auch im Morgenlande. Die indischen
Purana berichten von dem König Raiwata, der zu
Brahma kommt, um ihn um Rat zu fragen über die Vermählung
seiner Tochter. Da lauscht er einem himmlisch schönen
Liede. Als das Lied zu Ende und er des Gottes Rat erfragen
will, erklärt ihm Brahma lächelnd, daß zwanzig Menschenalter
in dem Strom der Zeit verflossen seien.
Die Dichtung der Araber wiederum verlegt in einen
irdischen Augenblick die Fülle göttlicher Jahrtausende. So in
der Himmelfahrt des Mahomed, den eines Nachts der Engel
Gabriel durch alle sieben Himmel Allahs führt, eine Weltenreise,
die tausend Jahrtausende erfordert. Und Mahomed,
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