Verirrte Herzen
den Tränen.
»Aber ihr habt euch doch lieb.« Lilly sah ihre Mutter verständnislos an.
Anne nickte. »Ja, das haben wir. Deswegen wird auch ganz bald alles wieder gut.«
»Und wer liest mir jetzt Geschichten vor? Caro kann am besten Geschichten vorlesen. Ich möchte mit dir zu Caro.« Aus Lillys Augen sprach eine große Traurigkeit.
Anne nahm Lilly in den Arm und strich sanft durch ihre Locken. »Ich verspreche dir, wir machen es uns ganz gemütlich bei Nadine, und ich werde dir so viele Geschichten vorlesen, wie du möchtest«, versuchte sie ihre Tochter zu trösten. Während sie redete, sammelte sich das Wasser in ihren Augen. Schnell wischte sie es mit ihrem Handrücken weg. Lilly sollte sie nicht weinen sehen. »Jetzt komm, sonst verpassen wir den Bus.« Anne erhob sich und nahm Lilly an die Hand.
Die gesamte Fahrt über starrte Anne aus dem Fenster. Triste, graue Wolken hingen tief am Horizont. Schäbige Häuser säumten die Straße. Nur wenige Menschen waren zu sehen.
Nach zwanzig Minuten waren sie angekommen. Anne öffnete die Tür, Nadine hatte ihr den Zweitschlüssel überlassen.
Lilly schaute sich interessiert um, als sie ihr vorläufiges Zuhause betrat. »Und wo ist mein Kinderzimmer?« fragte sie.
»Wir schlafen zusammen in einem Zimmer. Ist das nicht toll?« Anne lächelte Lilly an. Es fiel ihr unglaublich schwer, eine weitgehend glückliche Fassade für ihre Tochter aufrechtzuerhalten, doch sie musste sich zusammenreißen. »Ich zeige es dir.«
»Da ist ja gar kein Platz für meine Spielsachen«, zeigte sich Lilly wenig begeistert.
»Morgen holen wir dein Bett, und dann bauen wir dir eine Spielecke. Abgemacht?«
Lilly hob gleichgültig die Schultern. Sie war zu ihren Malsachen hinübergegangen, die Anne auf den kleinen Tisch gelegt hatte, und kletterte damit auf das Sofa.
»Mal doch einfach ein bisschen. Ich bin in der Küche, wenn etwas ist.« Anne war froh, dass Lilly so schnell eine Beschäftigung gefunden hatte.
Mit letzter Kraft setzte sich Anne auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Sie konnte nicht mehr. Sie spürte Tränen zwischen ihren Fingern hervorquellen. Wie hatte ihr das nur passieren können?
Anne hatte sich zu Nadine an den Frühstückstisch gesetzt. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht war sie schon eine ganze Weile auf den Beinen. Auch beim Bäcker war sie bereits gewesen.
Ihre beste Freundin musste gleich zur Arbeit in die Sparkasse.
»Ich habe Lilly versprochen, dass ich heute ihr Bett abholen werde.« In dieser Nacht hatte Lilly in Annes Bett geschlafen, und ihre Mutter hatte auf der Couch genächtigt, doch das war keine Dauerlösung.
»Das kannst du gern machen, sobald ich von der Arbeit zurückkomme. Du sagst mir das doch sicherlich, weil du mein Auto für den Transport brauchst, oder?« Nadine, die bereits zu dieser frühen Stunde bestens gelaunt war, zwinkerte ihr zu.
Ertappt zuckte Anne mit den Schultern. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Danke. Du bist die Beste.« Sie biss in ihr Brötchen. Appetit hatte sie zwar keinen, aber Nadine drängte sie, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen.
Nadine stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter und sprang von ihrem Stuhl auf. »Ich muss los. Bis nachher. Und vergiss nicht, fühl dich hier wie zu Hause.« Sie lächelte Anne zu.
Solange Lilly noch schlief, wollte Anne ein wenig in der Zeitung lesen, die sie auf dem Weg zum Bäcker gekauft hatte. Das Weltgeschehen konnte sie jedoch nicht fesseln. Sie blätterte die Zeitung durch und überflog nur den ein oder anderen Artikel.
Plötzlich sprang ihr eine Überschrift in bedrohlich großen Lettern in die Augen: »Über vierzig Prozent der Deutschen gehen fremd.« Anne starrte auf den Text. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, dicke Tropfen fielen auf das Papier.
Was geschehen war, verfolgte sie. Dieser unsägliche Seitensprung war allgegenwärtig.
Mit zitternden Fingern knüllte sie die Seite zusammen und warf sie auf den Boden. Sie konnte es nicht mehr ertragen.
»Was ist los?« Lilly tapste in die Küche und sah sie verschlafen an. Eigentlich hätte sie schon wieder in den Kindergarten gekonnt, aber Anne wollte sie gern noch diese Woche, solange sie Urlaub hatte, bei sich behalten.
»Nichts, nichts. Setz dich, ich mache dir Frühstück.«
Mechanisch schmierte Anne ihrer Tochter ein Bötchen und schenkte ihr eine Tasse Milch ein.
Nach dem Abwasch spielte sie mit Lilly, ehe sie sich um das Mittagessen kümmerte. Ein
Weitere Kostenlose Bücher