Veritas
aufzuhalten, dass diese Begegnungen sogar «Morgenreunionen» genannt wurden.
Pater Abraham a Sancta Clara klagte ferner darüber, dass das mit so wenig Plackerei verdiente Geld bei der erstbesten Feier oder am Wochenende verjubelt wurde, sodass man nicht mehr von «Festtagen», sondern vielmehr von «Fresstagen» sprechen musste. Seit zwei Jahrhunderten folgten unablässig Verordnungen aufeinander, die den Sonntag wieder heiligen und den Festgelagen und Besäufnissen ein Ende machen sollten. Man hatte zum Beispiel verboten, sonntags ins Wirtshaus zu gehen oder Boccia zu spielen, doch niemand hielt sich daran. Die Prozessionen und Pilgerzüge waren zum Schauplatz peinlicher Vermischung der Geschlechter geworden: Männer und Frauen tanzten und spielten miteinander und gaben sich zügellos den profansten Freuden hin, weshalb man schon oft – erfolglos – vorgeschlagen hatte, nach Geschlechtern getrennte Prozessionen einzuführen. Zwar hatte Pater Abraham gepredigt, die Gläubigen sollten nicht zu viel Zeit mit Beten verbringen (jeden Tag eine Stunde), doch dies, damit sie mehr Zeit zum Arbeiten hatten, nicht, um sich Ausschweifungen hinzugeben: «Das Gebet muss mit der Arbeit abwechseln / wie Sonn und Mondi am Himmel; das Gebet muss an der Arbeit seyn / wie die Hacken an dem Stiel.»
Ein kaum befolgter Rat, angesichts der zahlreichen Ruhetage. Allein der nationalen religiösen Feiertage gab es sechsunddreißig; kein Monat blieb ohne mehrere Feste. Außer dem unantastbaren, hochheiligen Weihnachtsfest, dem Dreikönigstag und Ostern gab es: im Januar die Beschneidung Jesu und die Bekehrung des Heiligen Paulus; im Februar Mariä Lichtmess und das Fest des Heiligen Matthäus; im März den Heiligen Joseph und Mariä Verkündigung, ganz zu schweigen davon, dass man außer am Ostermontag auch am Dienstag nach Ostern nicht zur Arbeit ging; im April sodann den Heiligen Georg und den Heiligen Markus. Im Mai hagelte es förmlich Feiertage: die Namensfeste der Heiligen Philipp und Jakobus, Christi Himmelfahrt, der Pfingstmontag und -dienstag und Fronleichnam; im Juni der Johannistag und das Fest Peter und Paul; im Juli Mariä Heimsuchung und die Feste der Heiligen Maria Magdalena und Jacobus; im August jene der Heiligen Laurentius und Bartholomäus, außerdem Mariä Himmelfahrt; im September Mariä Geburt, das Fest des Evangelisten Matthäus und des Heiligen Michael; im Oktober die Heiligen Simon und Juda; im November Allerheiligen, das Martinsfest und die Feiertage der Heiligen Katharina und Andrea; im Dezember der Heilige Nikolaus, die Unbefleckte Empfängnis und außer Weihnachten und dem Heiligen Stephan auch noch das Fest des Evangelisten Johannes, welches, da es auf den 27. Dezember fiel, Weihnachten füglich verlängern konnte. Das war die pietas austriaca …
In meinem ersten Monat in Wien hatte ich selbst nur fünf Tage gezählt, auf die nicht irgendein Fest fiel – an allen anderen Tagen hatte es immer einen feierlichen Anlass gegeben, um sich während der Arbeitszeit in die Kirche zu begeben.
Wahre Grundpfeiler der Verschwendung bildeten außerdem die religiösen Bruderschaften. Sie waren höchst zahlreich und mächtig. Die Dreifaltigkeitsbruderschaft bei St. Peter zum Beispiel zählte etwa achtzigtausend Anhänger. Allein in Wien gab es rund vierzig verschiedene Bruderschaften. Ihre Mitglieder genossen zahlreiche Begünstigungen: unentgeltliche medizinische Versorgung, post mortem eine Hinterlassenschaft in Geld für die Witwe und fünfzig kostenlose Messen, weiter das Recht, die Arbeitsstätte zu verlassen, um an den zahllosen religiösen Versammlungen der Kongregationen teilzunehmen. Zwar fanden diese Begegnungen meist sonntags statt, doch sie zogen sich häufig über die ganze Woche und länger hin. Bei den sogenannten Quatembersonntagen zum Beispiel wurde an den fünf darauffolgenden Tagen um acht Uhr morgens eine Messe zu Ehren der Unterstützer der Bruderschaft gelesen. Nach einer Prozession feierte man neun Tage lang jeweils eine Messe um acht Uhr, um die «Wohltäter der Prozession» zu würdigen. Am Ende des Jahres hatte jede Bruderschaft zwischen hundertfünfzig und zweihundert Messen gefeiert, etwa sechzig Rosenkränze abgebetet sowie noch einmal rund zwanzig Messen für die lebenden Mitglieder und ebenso viele für die verstorbenen abgehalten. Hinzu kamen die Begräbnisse, die Wahlen des Rektors und die Tage, an denen Beratungen stattfanden oder unvorhergesehene Ereignisse es geboten, die Mitglieder
Weitere Kostenlose Bücher