Veritas
scheint es, als rezitiere er die Psalmen», flüsterte ich Cloridia zu.
«Aber die indischen», entgegnete sie.
Die Psalmodie dauerte eine ganze Weile. Von Zeit zu Zeit brach Ciezeber ab, öffnete die Augen, bedachte die beiden Gegenstände, die er in der Hand hielt, mit seltsam zärtlichen Blicken und fing dann wieder an zu psalmodieren.
Endlich war der bizarre Ritus beendet. Der Derwisch behandelte den langen Schnitt auf seinem Bauch mit Speichel, und so wie jede Spur des Leidens auf seinem Gesicht und seinem Körper verschwunden war, schien auch diese Wunde sich schlagartig zu schließen. Der Dolch und die Schellenarmbänder wurden verstaut, der Haufen Gerätschaften zusammengepackt, der Teppich aufgerollt, der Derwisch kleidete sich wieder an und machte sich in aller Ruhe auf den Weg zurück in die Stadt.
Wir kamen aus unserem Versteck hervor. Ich ging zu der Stelle, wo der Mann seine schauderhaften Rituale vollführt hatte. Auf dem Gras sah man noch die roten Tropfen, die neben den Teppich gefallen waren. Ich bückte mich, um sie zu berühren, und tauchte den Finger hinein. Immer noch ungläubig, leckte ich daran. Es war tatsächlich Blut.
Was in aller Welt war hier geschehen? Hatte ich es denn nicht mit eigenen Augen gesehen? War das Blut etwa nicht ausgetreten? Hatte nicht mein Finger es berührt und mein Mund es geschmeckt? Ich dachte an die Vorführungen der berüchtigtsten Gaukler, welche während der Jahrmärkte in Scharen nach Wien kamen, fand jedoch in meiner Erinnerung nichts, was dem soeben Gesehenen gleichkam. Wir hatten ein überaus schlichtes Wesen beobachtet, das obendrein glaubte, allein zu sein. Es konnte sich also nicht um Schwindel handeln.
Immer noch verstört, hörte ich ohne jede Anteilnahme, was Cloridia mir über die Wundertaten berichtete, zu denen Derwische imstande sind.
«Meine Mutter hat es mir mehr als einmal gesagt: Sie können sich jedes Glied, sogar den Kopf, abschneiden und sofort genesen, als wäre nichts geschehen. Es heißt, sie wissen um natürliche oder, besser, übernatürliche, Geheimnisse, welche auf die Priester im alten Ägypten zurückgehen.»
«Warum nur ist der Derwisch, den der Aga mit nach Wien genommen hat, ein Inder?»
«Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht wurde er ja gerufen, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die man einem türkischen Derwisch nicht anvertrauen konnte.»
«Sind die Türken denn keine guten Derwische?»
«Was ist deiner Meinung nach ein Derwisch?», fragte Cloridia mich mit einem Lächeln.
«Nun ja, wenn ich in den Büchern über die Hohe Pforte und die dortigen Sitten von Derwischen gelesen habe, habe ich mir vorgestellt, dass es sich um Mönche handelt, die ein Armutsgelübde ablegen. Um fromme muselmanische Bettler, die einer mehr oder weniger strengen Ordensregel gehorchen und den Oberen irgendeiner priesterlichen Hierarchie unterstehen. Ihre Orden erfüllen karitative Verpflichtungen oder vollziehen Opferriten.»
«Nichts ähnelt einem türkischen Derwisch weniger als deine Phantasiegestalt», erwiderte meine Frau sarkastisch. «Du musst wissen, dass jeder Türke sich augenblicklich in einen Derwisch verwandeln kann, wenn er sich einen beliebigen Talisman um den Hals hängt oder an den Gürtel steckt. Das kann ein Stein sein, der in der Nähe Mekkas gesammelt wurde, ein trockenes Blatt, von einem Baum gefallen, der dem Grab eines Heiligen Schatten spendet, oder irgendein anderes Ding. Es gibt Derwische, die ein Ziegenfell wie einen spitzen Hut auf dem Kopf tragen, und dieser eigentümliche Schmuck genügt, um zu beweisen, dass sein Träger Anrecht auf den Titel eines Derwischs und die Verehrung der Gläubigen hat.»
Die türkischen Derwische, fuhr meine Gemahlin fort, leben von Almosen, was nicht ausschließt, dass sie sich in Diebe verwandeln können, sobald die Großzügigkeit der Bevölkerung nachlässt. Wie jeder gute Türke haben sie Ehefrauen, die sie jedoch in ihrem Heimatdorf zurücklassen, während sie ihre ewigen Pilgerfahrten fortsetzen. Immer wenn die Einsamkeit zu groß wird, nehmen sie sich eine neue Frau, um auch diese wieder zu verlassen, sobald ihre Lust auf das Vagabundenleben neu erwacht. Manchmal geschieht es, dass ein Derwisch nach einigen Jahren zu der Frau zurückkehrt, an die er die schönsten Erinnerungen bewahrt. Wenn sie auf ihn gewartet hat, tut das Paar sich für gewisse Zeit wieder zusammen; hat sie aber jemand Besseren gefunden oder keine Geduld gehabt, entschuldigt sie sich, so gut
Weitere Kostenlose Bücher