Veritas
eilig einzuberufen. Ich hatte ausgerechnet, dass bei all diesen Anlässen jedes Jahr ein guter Monat an Arbeit verlorenging. Die zweihundertfünfzig Arbeitstage verringerten sich also auf zweihundertzwanzig.
Doch es gab Leute, die noch weniger arbeiteten als Handwerker und Dienstboten, und das waren die Angestellten und Advokaten aus den mittleren Ständen. Sie erfreuten sich zusätzlicher Festtage am 18. Juli und 2. August (welche aus unerfindlichen Gründen «Schnitt-Ferien» genannt wurden) und am 1. Oktober und 15. November (die «Wein-Ferien»). Und damit nicht genug: Anlässlich des Osterfestes hatten sie gut vierzehn Tage Ferien! Freilich hatte dieser Überfluss viele nicht davon abgehalten, kleinkrämerisch einzuwenden, dass der dominica in albis an sich schon ein Festtag sei und daher gesondert gezählt werden müsse, wodurch sich insgesamt fünfzehn echte Ferientage ergaben. Diese Zählweise hatte zu Unruhen in den Kanzleien und vor allem in den Gerichten geführt, weil es an dem auf den Weißen Sonntag folgenden Montag stark an Personal mangelte. Der Kaiser persönlich hatte einschreiten und ein Gesetz erlassen müssen, darin festgelegt wurde, dass der dominica in albis zur vierzehntägigen Ferienzeit gehörte und darum als Feiertag nicht nachgeholt werden konnte.
«Simonis, ich wollte dir sagen, dass ich mit dir und deiner Arbeit zufrieden bin», sagte ich aus meinen Betrachtungen heraus.
«Danke, Herr Meister, ich fühle mich sehr geehrt», antwortete der Grieche höflich, den Mund voll mit Soße aus Zwiebeln und Gämsenfleisch.
Ich hatte wahrlich Grund, meinem Gehilfen zu danken! Inmitten dieses Wirrwarrs zahlloser Festivitäten nutzte Simonis die immense Anzahl universitätsfreier Tage, um sich ungestört seiner Arbeit als Rauchfangkehrer in meinen Diensten zu widmen. Es gab nur wenige Tage, an denen ich wirklich auf ihn verzichten musste, und das nie länger als ein paar Stunden. So war er zum Beispiel am vergangenen 2. April einberufen worden: « Der Grün-Donnerstag fallt den 2 . deß Monats , da halten auch die Herren Studenten deß löbl . Kayserl . Convicts S . J . in ihrer Capellen eine Fußwaschung .» Auch am kommenden 25. April, dem Fest des Heiligen Markus, würde ich ihn entbehren müssen, denn « hier pflegen die Herren Studenten die grosse Procession von St . Stephan-Dom Kirchen auß nachher St . Marx und wieder zurück zu begleiten .»
Die eigentlichen Ferien der Studenten aber summierten sich zu einer stattlichen Zahl: einhundertvierzehn Tage, ohne zu lernen oder Vorlesungen zu hören. Hinzu kamen die Feste der einzelnen Fakultäten. Denn jede hatte ihren Schutzpatron mit zugehörigem Feiertage. Weiter gab es die Festtage jeder der vier Nationen, in welche die Universität sich aufteilte (die österreichische, rheinische, ungarische und sächsische); sodann die Gedenktage: Allerheiligen zum Beispiel war allen verstorbenen Universitätsangehörigen gewidmet. Nicht zu vergessen die Festlichkeiten bei Hofe: Jeder Tag, an dem angesehene Mitglieder der Alma Mater Rudolphina zur Audienz beim Kaiser zugelassen wurden oder sich aus irgendeinem Grund an den Hof begaben, war ein Ruhetag, ebenso natürlich, wenn Krönungen, königliche Hochzeiten, der Einzug von Gesandten oder der kaiserlichen Gemahlinnen und ihrer Verwandten stattfanden. Zuletzt gab es noch das Fest der Renovation, wenn nämlich die Privilegien erneuert wurden, welche der Kaiser der Universität seit unvordenklichen Zeiten gewährte.
Noch größer war das Glück der Schüler: Neben den einhundertachtundsiebzig gebotenen Feiertagen erfreuten sie sich Jahr für Jahr einer so großen Menge «außerordentlicher Ferien» (auf Verlangen der Bischöfe oder einzelner Fürsten, die ein bestimmtes Ereignis feiern wollten), dass man hierorts, wie ich ausgerechnet hatte, nicht öfter als jeden dritten Tag zur Schule ging! Mein Kleiner, den ich des Abends und an Ruhetagen selbst im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwies, war in seinem Alter schon weit besser ausgebildet als die meisten Kinder Wiens.
Oh, du weises Wien!, sagte ich mir und betrachtete bewundernd mein Söhnchen, meinen kleinen Schornsteinfegerlehrling, der gerade dabei war, selig seinen gründlich geleerten Teller abzulecken. Wahrhaftig, du kennst den Weg zu Gesundheit und Glück, du kennst die Kunst, das Leben zu genießen! Zu Beginn meiner Überlegungen hatte ich das Übermaß an Festtagen und die Faulheit der Wiener als eine Heimsuchung bezeichnet, aber ich
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