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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Orsini war gekommen, mich zu begrüßen, und ich, ganz in meinen düsteren Ängsten befangen, hatte ihn nicht einmal wahrgenommen.
    «Ah, Ihr seid es», seufzte ich erleichtert auf.
    «Ich hätte wohl sagen müssen: blass, nachdenklich und äußerst nervös», verbesserte er sich und gab mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter.
    «Bitte verzeiht, ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.»
    «Das haben wir alle. Wir Musiker haben heute auch am Nachmittag stundenlang geprobt und sind sehr müde. Aber es gilt, die Zähne zusammenzubeißen, sonst blamieren wir uns bei der Aufführung vor dem Nuntius, und der Kaiser lässt das gesamte Orchester auspeitschen», entgegnete Orsini grinsend.
    «Und die arme Camilla auch», fügte ich hinzu, in dem mühsamen Versuch, mich Orsinis guter Laune anzupassen.
    «Oh, nein, sie gewiss nicht», entgegnete er mit einem eigenartigen Lächeln.
    «Nein? Exzeptionelle Gnade für die Chormeisterin der Himmelpforte?»
    «Wisst Ihr es denn nicht? Unsere Freundin ist eine engste Vertraute Ihro Kaiserlicher Majestät», sagte er mit gedämpfter Stimme.
    Ich schwieg einen Augenblick und wechselte einen erschrockenen Blick mit Cloridia.
    «Bis jetzt hat Camilla ein Oratorium pro Jahr für den Kaiser komponiert», fuhr Orsini fort. «Das macht insgesamt vier Oratorien, und sie wollte niemals bezahlt werden. Was ein wahres Rätsel ist, umso mehr, als Ihre Kaiserliche Majestät keine Kosten scheut, wenn es um die Hofkapelle geht. Er hat alle sechsundsiebzig Musiker seines Vaters übernommen, ja, sogar viele andere zusätzlich engagiert, insonderheit Violinisten, sodass wir jetzt einhundertsieben Geigen zählen, was in Europa einzigartig ist. Ganz zu schweigen von der Oper, die vor drei Jahren eröffnet wurde. Denn nach der osmanischen Belagerung vor achtundzwanzig Jahren hat Wien kein Opernhaus mehr gehabt, das diesen Namen verdiente.»
    Mit Joseph I., so Orsini, sei Wien zur Hauptstadt des italienischen Melodrams geworden, des gehobenen wie des unterhaltenden, ebenso der Harlekinaden, Pantomimen, des Balletts, der Schattenspiele, der Seiltänzer et coetera et coetera . Die Oper sei zur besten in ganz Europa avanciert: vierzehn Aufführungen und mehr im Jahr, voll der berühmtesten Namen unter Sängern, Komponisten und Instrumentalisten.
    «Alles ausnahmslos Italiener», präzisierte Orsini stolz.
    Dies gebe eine Vorstellung von den künstlerischen Glanzleistungen, welche dank der Großherzigkeit und des feinen Geschmacks Ihrer Kaiserlichen Majestät erreicht werden konnten. Majestät selbst sei zudem in den musikalischen Künsten ebenso begabt wie in jenen des Krieges, und in Mußestunden, wenn keine Staatsgeschäfte drängten, setze er sich ans Cembalo oder greife zur Flöte oder dilettiere in anmutigen Kompositionen, unter welchen eine Regina Coeli für Solosopran, Violine und Orgel sowie viele virtuose Opernarien in der Manier des Italieners Alessandro Scarlatti herausragten. Überdies ermutige das eigene Talent unseres jungen, geliebten Kaisers, verbunden mit der großen Anzahl seiner Musiker, zu jeder Art Experiment, sodass man bei Hofe die Instrumente nicht selten in neuer, überraschender Weise gebrauche. Darüber sei die Josephkapelle, wie die Kapelle zu Ehren des Kaisers getauft wurde, zu einem in ganz Europa einzigartigen Vorposten der Innovation geworden, wie man dergleichen nie zuvor habe bewundern können.
    «Doch trotz alledem hat unsere geheimnisvolle Chormeisterin nie einen einzigen Gulden vom Kaiser haben wollen. Auch bevor sie dem Kloster beitrat, hat sie sich immer anständig und ehrlich durchs Leben geschlagen.»
    «O ja, das ist wahr», pflichteten Cloridia und ich bei, indem wir vorgaben, wir wüssten, worauf Orsini anspielte.
    «Sie ist durch alle Städtchen Niederösterreichs gezogen und hat dort Hunderte von Kranken nach den Vorschriften jener rheinischen Äbtissin geheilt, der Heiligen Hildegard. Oftmals wurde sie sogar von den Priestern um Rat gebeten, welche für die Letzte Ölung gerufen worden waren. Man holte sie eilig ans Bett des Sterbenden, sie nannte die geeignete Behandlung, die, glaube ich, immer auf dem Dinkelkorn beruhte, und binnen weniger Tage ereignete sich das Wunder: Der Patient aß, erhob sich und konnte wieder gehen.»
    «Oh, auch bei unserem Sohn hat sie beachtliche Ergebnisse erzielt», stimmte ich zu.
    «Ja, aber hier in Wien kuriert Camilla nur Freunde. Die Universität geht sehr streng gegen diejenigen vor, die die Heilkunst ohne

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