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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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und zu Tode erschöpft nach diesem Tag voller Überraschungen, schlüpften wir alsbald unter die Decken. Cloridia wurde in meinen Armen vom Schlaf übermannt, ich hingegen konnte trotz der Müdigkeit kein Auge zutun.
    Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf, jede mit der nächsten verflochten wie die Perlen einer rätselhaften Kette. Warum hatte Camilla de’ Rossi uns nicht gesagt, dass sie die Freundin des Kaisers war? Aus Gründen der Diskretion vielleicht. Aber warum weigerte sie sich, für ihre Kompositionen bezahlt zu werden? Warum hatte sie sich sogar in ein Kloster zurückgezogen?
    Und dann: Camilla hatte heute bedrückt gewirkt, doch aus welchem Grunde? Ich konnte verstehen, dass sie nicht, wie sonst, eine halbe Stunde im Gespräch mit uns verlieren wollte. Aber warum hatte sie nicht einmal das Wort an uns gerichtet? Wir hätten ihr wahrhaftig etwas zu erzählen gehabt! Schließlich war Atto Melani am gestrigen Abend im Konvent angekommen.
    Seit langem wusste Camilla, wie Atto selbst mir bestätigt hatte, dass der Abbé nach Wien kommen würde. Doch auf seine Bitten hin hatte sie das Geheimnis gewahrt; darum wohl hatte sie vor ein paar Tagen mit einem sibyllinischen Lächeln gesagt, uns erwarteten «sehr frohe Stunden». Doch was wusste Camilla von den Absichten, die Atto in die Kaiserstadt geführt hatten? Darüber hatte der Abbé mir rein gar nichts gesagt. Musste die Chormeisterin den Besuch des alten Kastraten, überdies aus dem feindlichen Frankreich, nicht recht sonderbar finden? Wusste sie, dass Melani ein gewerbsmäßiger Spion war?
    Nein, wahrscheinlich wusste sie es nicht, sagte ich mir. Atto hatte ihr sicherlich ein schönes Ammenmärchen aufgetischt. Möglicherweise hatte er ihr erzählt, er wolle mich vor seinem Tod unter allen Umständen noch einmal sehen. Vermutlich hatte er jene theatralischen Töne angeschlagen, die er für seine eigenen Zwecke so trefflich einzusetzen verstand … Und Camilla war darauf hereingefallen.
    Die Fragen in meinem Kopf vervielfachten sich wie in einem Spiegelkabinett. Warum nutzte Atto nicht Camilla, um dem Kaiser Eugens Brief auszuhändigen? Wusste er nicht, dass die Chormeisterin Josephs Freundin war? Nein, wahrscheinlich wusste er es nicht. Andernfalls hätte er sich nicht auf die Fährte von Marianna Pállfy gesetzt, ohne Camilla überhaupt zu erwähnen. Ich selbst hatte ja auch nur zufällig von der Freundschaft zwischen Joseph und der Chormeisterin erfahren, dank des geschwätzigen Gaetano Orsini.
    Was sollte ich tun? Atto dieses kostbare Wissen verraten oder schweigen? Für Camilla würde es kinderleicht sein, ihrem Kaiser den Brief des Savoyers zu übergeben. Aber was würde geschehen, wenn Atto, wie ich argwöhnte, mit den Türken unter einer Decke steckte? Hätte ich Ihre Kaiserliche Majestät dann nicht einem gefährlichen Komplott ausgeliefert? Könnte ich nicht sogar der Mittäterschaft angeklagt werden?
    Nein, es war besser, Atto nichts zu verraten. Im Gegenteil, ich würde ihn sorgfältig im Auge behalten (was nicht mehr so schwierig war wie einst, nun, da er ein Greis war). Doch vor allem würde ich ihm verheimlichen, dass der Kontakt mit dem Kaiser, den er so sehnlich begehrte, gleich um die Ecke zu haben war, oder vielmehr schon im Kloster, wo er selbst schlief.
    Wenn Atto gewusst hätte, wie leicht es sein könnte, mit dem Kaiser zu sprechen! Aus den Plaudereien meiner Zunftgenossen, meiner Kunden und der Gäste von Beisln und Kaffeehäusern wusste ich nämlich, auch wenn ich ihm tief ergeben war, dass der junge Kaiser, ungeachtet seiner glanzvollen Taten, in seiner Seele tiefe Wunden trug, die zu einer Art unreifer Naivität vernarbt waren. Genau hier konnte Abbé Melani ansetzen. Wenn es ihm gelänge, durch Camilla eine Audienz beim Kaiser zu erhalten, würde er sicherlich angehört werden und wahrscheinlich erreichen, was er zu erreichen hoffte. Und das war etwas Gutes, wenn Attos Absichten tatsächlich auf den Frieden gerichtet waren, wie er behauptete. Etwas Schlechtes war es dagegen, wenn er in Wirklichkeit mit den Türken und ihren ungebührlichen Zielen gemeinsame Sache machte.
    Joseph der Sieghafte war mit dem Feuer, der Noblesse und dem Seelenadel eines wahrhaften Monarchen geboren. Er war großer Gesten fähig, er konnte die Unschlüssigen mitreißen, die Unempfindlichen rühren. Er war ungeduldig, energisch, schnell von Entschluss, ein hitziger Improvisator. Doch er hörte auch die nichtigsten Klagen an, machte Versprechen, die

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