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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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seine Möglichkeiten weit überstiegen, und konnte niemandem etwas verweigern.
    Diese verborgene und tückische Schwäche hatte ihren Grund in einer grausamen Ironie des Schicksals: Er war der Sohn eines Mannes, der sein genaues Gegenteil bildete.
    Josephs Vater Leopold war fromm, schüchtern und engherzig gewesen, er dagegen kühn, unbefangen, zuvorkommend. Leopold war vorsichtig, phlegmatisch, unschlüssig und maßvoll, Joseph sprühte vor Lebenslust. Schon mit vierundzwanzig war er gegen die Franzosen ins Feld gezogen, hatte die Streitkräfte persönlich befehligt und die berühmte Festung Landau erobert. Seither wurde er «der Sieghafte» genannt. Sein Vater Leopold aber war, als die Türken 1683 auf Wien vorrückten, Hals über Kopf geflohen.
    Der junge Joseph, erstgeborener Sohn und somit für den Thron bestimmt, hatte sich von Anfang an zur Regentschaft berufen gefühlt. Er liebte sein Volk und wurde von ihm geliebt. Doch er forderte auch Gehorsam von seinen Untertanen, daher hatte er sich das lateinische Motto Timore et amore erwählt. Er würde für seine Regierung «Liebe und Furcht», zwei der stärksten Leidenschaften, nutzen.
    Der Vater dagegen war durch Zufall Kaiser geworden: Als junger Mensch wurde er auf das Priesteramt vorbereitet, weil sein älterer Bruder für den Thron bestimmt war. Als dieser an einer Krankheit starb, war das Regieren für Leopold nur eine äußerst beschwerliche Pflicht, der man am besten mit viel Geduld nachkam. Nicht zufällig lautete sein Motto Consilio et industria : «Mit Überlegung und Fleiß». Er war von den mächtigen Jesuiten erzogen worden, die sich seiner leicht formbaren Seele bemächtigt hatten. Statt sich von der Religion leiten zu lassen, benutzte Leopold sie als Schutzschild. Sein ängstliches Wesen ließ ihn auch im Glauben schwanken, er war besessen von Superstition und Zauberei, er fürchtete die Magie. Überzeugt, er müsse die Tugend der Geduld üben, ließ er sich sogar von den Bittstellern, die er bei Hofe empfing, schlecht behandeln.
    Joseph war fromm, gewiss, aber er verabscheute die intriganten Jesuiten. Er hatte sich geschworen, sie aus dem Kaiserhof zu verjagen, sobald er den Thron bestiegen hätte.
    Aus Trägheit, und um seine Schmeichler nicht zu verlieren, hatte der Vater Hofstaat und Regierung jahrzehntelang als monströs aufgeblähten Apparat voll unnützer, tatenloser, überbezahlter und streitsüchtiger Minister am Leben gehalten. Joseph konnte es kaum erwarten, sie alle vor die Tür zu setzen und durch junge, tatkräftige und kundige Männer seines Vertrauens zu ersetzen. Die Minister wussten das (Joseph hatte sogar eine Art Parallelregierung gegründet, den sogenannten «Jungen Hof»), und sie hassten ihn dafür.
    Die ständigen Maßregelungen des Vaters, der ihm seine weiblichen Eroberungen vorwarf, machten alles nur noch schlimmer. Zuletzt verbot ihm der Vater, sich den Staatsgeschäften zu widmen. Er verstand und ertrug diesen Sohn nicht, der sich so sehr von ihm unterschied und seinem großen Feind, dem Sonnenkönig, so ähnlich war: Auch dieser war eine glanzvolle Gestalt mit einem gewinnenden Wesen und Liebling der Frauen. Leopold zog den strahlenden Siegern die Mittelmäßigen vor, den Jungen die Alten, den Fachmännern die Unfähigen, den Mutigen die Feigen. Wie hätte er seinen Erstgeborenen lieben können?
    Tatsächlich liebte er einen anderen: Karl, den jüngeren Sohn.
    Karl war die vollkommene Verkörperung jener Mittelmäßigkeit, die Leopold schätzte. Joseph war ungestüm, Karl, der Jesuitenzögling, gemessen. Der Erste besaß ein anziehendes Äußeres, der Zweite sah nur passabel aus. Joseph gab sofort ein eigenes Urteil ab, und er war redegewandt, Karl zögerte und schwieg darum. Joseph lachte und steckte alle damit an, Karl fürchtete, ausgelacht zu werden.
    Sie waren aus demselben Mutterleib gekommen, allein, der eine war als Regent, der andere als Mitläufer geboren. Karl hätte wahrscheinlich ohne große Streitereien mit seinem Bruder zusammenleben können, doch den Keim der Rivalität hatte ihr eigener Vater gesät, da er seine Vorliebe für den Jüngeren nie verbarg. Auf dem Totenbett hatte er eilig einige Klauseln eingefügt, die Karl ausgerechnet in dem Moment zuungunsten Josephs bevorzugten, als die Politik ihm die Thronnachfolge verwehrte.
    Joseph war tödlich beleidigt, und Karl hasste ihn, weil er glaubte, er selbst habe den Thron verdient. Hatte der Vater ihm nicht gesagt, er sei der Bessere? Der Jüngere, ein

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