Veritas
Hause geschickt wurde, war Eugen von Savoyen. Die neuen Minister, die Joseph ausgewählt hatte, waren keine Unschuldslämmer. Zank und Rivalität zwischen ihnen blieben nicht aus. Doch dank seines taktischen Geschicks wusste er alle Zwietracht beizulegen.
Der junge Kaiser hatte sich alsbald an die langwierige, schwierige Aufgabe der Sanierung der Staatsfinanzen gemacht, freilich ohne darüber jene Reformen zu vergessen, welche das Leben seiner Untertanen verbessern konnten. Beginnend in Wien, ordinierte er nebst vielen anderen Initiativen die regelmäßige Reinigung der Straßen; legte ein Kanalisationsnetz an; dehnte die Vorschrift, die Gestorbenen eines jeden Tages zu verzeichnen, auch auf die Vorstädte aus und ließ in der Nähe des Kärntnertores ein Theater fürs Volk bauen, wo die beliebten alten Wiener Komödien aufgeführt wurden, die sich ihrerseits an der noch älteren Commedia dell’Arte Italiens inspirierten. Schließlich hatte er einhundertachtzig türkische Kanonen, die nach der Belagerung von 1683 als Kriegsbeute im städtischen Arsenal geblieben waren, hervorholen lassen: Ein Gusswerk sollte sie in die neue, herrliche Glocke des Stephansdoms umschmelzen, die schönste und größte Glocke, die man je in der Haupt- und Kaiserlichen Residenzstadt Wien gesehen hatte; und das Werk sollte am kommenden Juli 1711, dem dreiunddreißigsten Geburtstage Josephs, des Sieghaften, präsentiert und feierlich eingeweiht werden.
Nun geriet ich an ein «Prototypisches Kabbalistisches Prognostikon», oder auch ein Geburtshoroskop Josephs: Horoscopus gloriae , felicitatis , et perennitatis , Josephi Primi , Romanorum Imperatoris , semper Augusti , Germaniae , Bohemiae , Hungariae , &c . &c . Regis .
Es war mit arithmetischen Berechnungen auf der Grundlage der Heiligen Schriften erstellt, und zwar im Jahre 1709 vom Doctor saluberrimae Medicinae aus Padua Josepho Wallich, olim Hertzwallich. Die auf Hebräisch, Latein, Griechisch, Chaldäisch, Syrisch, Kabbalistisch, Rabbinisch, Jerusalemisch, Polnisch, Italienisch, Französisch und Deutsch abgefasste Prophezeiung lautete in schönster Klarheit:
JOSEPH der Erste , Römischer Kayser ,
allezeit Vermehrer deß Reichs ,
ein von Gott gesegneter Vatter
zur Ersprießlichkeit unterworffener Länder .
und alle seine Tage werden Siegreich seyn .
Die Prophezeiung hatte ins Schwarze getroffen. In diesem Jahr, 1711, schien das Anathema des Jesuiten Wiedemann endgültig abgewehrt. Die wirtschaftliche und militärische Situation hatte sich sehr gebessert. Das Volk fürchtete und liebte Joseph, wie er es gewollt hatte: Timore et amore . Nun, da die Figur des Vaters ausgelöscht war, fühlte er sich als Herr über sein Reich. Doch hinter den Kulissen des neuen Kurses blieb der Hass der alten Minister, die auf Rache sannen, unvermindert bestehen. Und nicht weniger giftig pulsierte im fernen Spanien wie ein lebendes Wesen die Gegnerschaft des Bruders: eine Schlange, die er seit langem unter der nie erloschenen Glut des Hasses nährte.
Da haben wir ihn wieder, dachte ich: den Hass, dieselbe schreckliche Leidenschaft, die das Schicksal des Ortes Ohne Namen und seines Erbauers gezeichnet und die Vorgänger des Erhabenen Kaisers erschreckt hatte. Doch hier lag vielleicht auch die Antwort auf meine Fragen: Joseph der Sieghafte war es gewöhnt, Hindernisse zu überwinden. Für sich ganz allein beanspruchte er das Recht, Furcht einzuflößen: Timore et amore …
Am Ende des vergangenen Jahres war jedoch wieder etwas geschehen, was den treuen Untertanen Sorgen bereitete. Der Almanach Englischer Wahrsager hatte in seinen gereimten Vorhersagen für das kommende Jahr 1711 verkündet:
Man hört von ungemeiner Plage :
am Käyserhof grosse Klage .
Käyserlicher schneller Fall
Gibt weit und breit den Widerschall ;
Viel Böses wird dadurch gestifft ,
So einen felicem Staat betrifft .
Die düstere Prophezeiung hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Soeben in Wien angekommen, hatte ich meine Landsleute schon davon reden gehört. Der Almanach Englischer Wahrsager sprach von einem «Fall» des Kaisers, der großes Leid hervorrufen und viel Böses in einer blühenden Nation stiften werde – wer sollte da nicht fürchten um das Haus Habsburg und das Felix Austria , wie das Land, welches mich beherbergte, genannt wurde? Zum Glück war gleich darauf der Warschauer Calender eingetroffen, um dem Pessimismus des Englischen Wahrsagers und der Angst des Volkes mit seiner klaren
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