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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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ab.
    An einen der hölzernen Handläufe geklammert, sah ich, wie die mächtigen Mauern des Ballspielhauses rasend schnell in die Tiefe sanken, der Horizont sich auftat und das Dach des Ortes Ohne Namen mir entgegenkam. Die diffuse Helligkeit der winterlichen Landschaft öffnete sich weit, und das gesegnete Licht des Himmels umströmte mich von oben und unten und ringsumher, ganz so, wie ich mir die Ankunft im Paradies immer vorgestellt hatte. Das Fliegende Schiff hatte sich endlich wieder in die Lüfte erhoben. Ich hörte das Knarren des Steuerruders, drehte mich um und sah ihn: Der schwarze Steuermann blickte starr nach vorne, während er das Segelschiff mit sicherer Hand durch die luftigen Fluten lenkte. Doch bald ließ er das Steuer los, das sich wie von unsichtbaren Geistern beherrscht allein weiterdrehte; er bückte sich und tauchte mit einer Geige wieder auf. Den Bogen geschickt beseelend, ließ er die ersten Töne eines Motivs erklingen, das mir vertraut war. In diesem Augenblick erkannte ich ihn: Albicastro war es, der Violinist, dem ich vor vielen Jahren in der Villa des Schiffes begegnet war, und diese Musik war die portugiesische Folia, die er immer zu spielen pflegte.
    Es war also die Wahrheit: Die Gazette, die Frosch mir zu lesen gegeben hatte, log nicht, auch vor zwei Jahren war dieser alte Kahn geflogen und wäre fast am Turm des Stephansdoms hängen geblieben, als er die Fiale streifte, über welcher sich der Goldene Apfel erhob. Und sein geheimnisvoller Steuermann – von wegen brasilianischer Geistlicher! – war niemand anderes als Giovanni Henrico Albicastro, der Fliegende Holländer auf seinem Geisterschiff. So hatte Atto Melani, versteinert vor Entsetzen, ihn angesprochen, als wir seiner zum ersten Male ansichtig wurden und es den Anschein hatte, als schwebte er dank seines Umhangs aus schwarzem Mull über den Zinnenmauern der Schiffsvilla.
    Ich ließ den Blick über die Gärten des Ortes Ohne Namen und die schneebedeckte Simmeringer Haide schweifen und erkannte in der Ferne die Dächer Wiens und die Turmspitze des Stephansdoms. Mehr und mehr näherte ich mich Albicastro, der seine Folia spielte und mir zulächelte, doch als ich ihn umarmen wollte, war alles zu Ende. Hinter mir spürte ich ein erneutes Zittern und ein dumpfes, feindliches Brummen. «Das hätte ich mir denken können: Hier hat er sich versteckt», sagte ich in einer plötzlichen Eingebung, während ich mich schon umwandte und jene infernalische Stimme mit ihrem warmen, unmenschlichen Hauch über mich herfiel. Mustafa brüllte ein-, zwei-, dreimal, er traf mich mit der rechten Pfote und bohrte seine Krallen in meine Wange. Bevor ich starb, erhob sich noch ein verzweifelter Schrei: Es war mein eigener. Ich wachte auf.

    Aus dem Albtraum, zu dem ich mich verdammt hatte, konnte nur ich selbst mich befreien, und das hatte ich getan. Das Laken war schweißnass, mein Gesicht heiß wie der Atem Mustafas, Hände und Füße kalt wie der Schnee in meinem Traum. Der Ort Ohne Namen begnügte sich nicht damit, meine Gedanken bei Tage zu beherrschen, jetzt wollte er auch in meine Nächte eindringen. Es war, als berge das Neugebäu zu viele Rätsel, um ihm allein mit der Vernunft beizukommen.
    Cloridia und der Kleine waren schon aufgestanden. Sicher erwarteten sie mich zur Messfeier. Gott sei’s gelobt, dachte ich, Gebet und Kommunion würden mich vollends von den Trugbildern der nächtlichen Finsternis befreien.

5.30 Uhr: Frühmesse. Von nun an folgt unaufhörlich Glockengeläut, das den ganzen Tag lang Messen, Andachten und Prozessionen ankündigt. Die Beisln und Bierhäusl öffnen.
    Während ich mich ankleidete, hörte ich ein gedämpftes Klopfen. Eine diskrete Hand hatte ein Billett unter der Tür hindurchgeschoben: Atto rief mich dringend zu sich, wir würden zusammen die Morgenmesse in St. Agnes, der Kirche des Himmelpfortkonvents, besuchen.
    Der plötzliche Schneefall im April, selten, aber nicht unmöglich in Wien, hatte die Stadt mit einem dichten, anmutigen Mantel bedeckt, geradeso wie in meinem Traum. Ich ging mit Cloridia und unserem Söhnchen in die Rauhensteingasse, die Querstraße neben dem Kloster, wo sich das Hauptportal der Kirche befand. Am Eingang des Mittelschiffs stießen wir auf Atto und Domenico. Überrascht bemerkte ich, dass der Abbé zwar andere Kleider trug als am Vortage, doch auch dieses Mal in Grün und Schwarz erschienen war, als hätte er seine gesamte Garderobe nur in diesen beiden Farben erneuert.
    Fröstelnd

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