Veritas
wollte, da es sich um studentische Gebräuche handelte. «Du sagtest, die Länder an der Grenze zu Asien, wie ebenjenes Pontevedro, seien ganz anders als die unsrigen.»
«In ihnen begegnen sich europäische Bildung und asiatische Barbarei», antwortete Simonis, nun ernst geworden, «westliches Vorwärtsstreben und die orientalische Indolenz, europäische Humanität und so wilder, grausamer Zwist der Nationen und Religionen, Herr Meister, wie er Euch und mir, die wir Europäer sind, nicht bloß fremdartig, sondern geradezu unerhört erscheinen muss. Vor diesen Leuten muss man sich in Acht nehmen. Doch jetzt müssen wir abbrechen, Herr Meister: Wir sind angekommen.»
Wir verließen Peniceks Gefährt und stiegen eine steinerne Treppe hinauf. An ihrem Ende gelangten wir auf eine große freie Fläche auf dem Rand der Umfriedungsmauern, welche über das Glacis blicken, jene weite Ebene rings um die Stadt, die sie von der Vorstadt Josephina trennt.
«Wir haben uns schon oft hier getroffen, alle Kameraden von Danilo, und … merkwürdig, ich sehe ihn noch nicht.» Simonis blickte sich um. «Im Allgemeinen ist er sehr pünktlich. Wartet, ich gehe ihn suchen.»
Danilo Danilowitsch hatte einen sehr abgelegenen Teil der städtischen Bastionen als Treffpunkt gewählt. Die Befestigungsmauern waren fast überall zugänglich, doch leider waren sie auch wegen der undurchsichtigen Geschäfte bekannt, welche sich des Nachts hier abspielten. Die Soldaten der städtischen Garnison nutzten nämlich die Dunkelheit, um heimlich Handel mit Wein zu treiben und sich mit Mädchen zu vergnügen, jungen Dingern, die zuhauf auf den Bastionen ihren Körper feilboten. An diesem Abend indes, bei der Kälte und dem eisigen Wind, der erbarmungslos über die Bollwerke fegte, sah man weder Soldaten noch Prostituierte.
Simonis war schon seit einer guten Viertelstunde verschwunden. Was zum Teufel war geschehen? Ich wollte ihn gerade suchen gehen, als ich seinen Schatten in der Finsternis auftauchen sah.
«Herr Meister! Herr Meister, lauft, schnell!», keuchte er mit erstickter Stimme.
Ich lief mit meinem Gehilfen zur Terrasse einer nahe gelegenen Brustwehr, wo ein schwarzes Bündel, dessen Umrisse nicht genau zu erkennen waren, am Boden lag.
«O mein Gott», stöhnte ich, als ich in dem Bündel einen menschlichen Körper erkannte und sein Gesicht als das eines großen, kräftigen Mannes: Danilo Danilowitsch.
«Was ist ihm geschehen?», fragte ich und rang nach Luft.
«Man hat ihn niedergestochen, Herr Meister, seht her», sagte Simonis und öffnete seine Pelerine, «alles ist voller Blut. Sie haben mindestens zwanzigmal zugestochen.»
«O Gott, wir müssen ihn von hier wegbringen … Aber was tust du da?»
Simonis hatte eine Ampulle mit einer Flüssigkeit aus seiner Tasche gezogen und hielt sie Danilo unter die Nase.
«Ich. prüfe, ob er niest. Es ist Rautensaft: Wenn er niest, sind die Verletzungen nicht tödlich, wenn er nicht reagiert, ist nichts mehr zu machen.»
Der junge Pontevedriner rührte sich nicht.
«O mein Gott», wimmerte ich.
«Schsch!», unterbrach mich der Grieche.
Danilo wollte etwas sagen. Es war ein leises Krächzen, und mit dem Atem, der ihm wegen der Kälte als weiße Wolke aus dem Mund strömte, schien auch seine Seele zu entschwinden.
«Zivio … Zivio …», nuschelte er.
«Das ist eine Begrüßung auf Pontevedrinisch», erklärte Simonis, «er redet wirr.»
«Der Apfel, der Goldene Apfel … die vierzigtausend von Kasim …», murmelte der Student.
«Wer hat dich überfallen, Danilo?», fragte ich.
«Lassen wir ihn sprechen, Herr Meister», unterbrach Simonis mich wieder.
«… der Schrei der vierzigtausend Märtyrer …», stammelte Danilo weiter.
Simonis und ich tauschten verzweifelte Blicke. Es schien, als habe Danilo nur noch wenige Augenblicke zu leben.
«Der Apfel … Simonis, der Goldene Apfel … von Wien und vom Papst … Wir sehen uns wieder im Goldenen Apfel …»
Es hörte sich ganz so an wie ein Abschied.
Da begann der Grieche, den Sterbenden zu bestürmen:
«Danilo, hör zu! Halt durch, verdammt nochmal! Mit wem hast du über den Goldenen Apfel gesprochen? Und wer sind die vierzigtausend von Kasim?»
Er antwortete nicht. Plötzlich ging sein Atem schneller.
«Der Schrei … der vierzigtausend, jeden Freitag … der Goldene Apfel in Konstantinopel … in Wien … in Rom … Eyyub hat ihn gefunden.»
Dann stockte sein Atem. Er hob den Kopf und öffnete die Augen, als hätte er eine
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