Veritas
den Postillion, als erwartete man einen Messerstich. Wer ausspioniert wurde (und sich natürlich rächte, indem er seinerseits spionierte), musste seine Vorratskammer abschließen, um ein Ferkel zu viel zu verbergen, die gepolsterten Sessel in den Keller verfrachten oder das güldene Ringlein der jüngsten Tochter im Garten vergraben. Aber wer konnte schon all die Verbote im Gedächtnis behalten? An Festtagen durften Schmuck und Haarputz nicht mehr als sechshundert Gulden in der ersten, dreihundert in der zweiten, zwanzig bis dreißig in der dritten, fünfzehn bis zwanzig in der vierten und vier Kreuzer in der fünften Klasse kosten. Ein armseliger Tagelöhner und Analphabet aus der fünften Klasse musste achtgeben, dass er keine Handtücher für mehr als einen Gulden und dreißig Kreuzer besaß, dass Schuhe und Hüte ihn nicht mehr als einen Gulden kosteten und dass er keine Speisen oder Bankette zum Preis von über fünfzehn oder, falls diese für Kinder gedacht, von über fünf Gulden bestellte. Im Grunde musste man sein Leben über einem mit Zahlen gespickten Notizbüchlein zubringen, von dem man den Blick nur erhob, um den Nachbarn zu kontrollieren.
Das Leben war zur Hölle geworden, was sicherlich nicht in Leopolds Absicht gelegen hatte. Doch vor allem hatten die Wiener, welche eine natürliche Weisheit besitzen und das friedliche Leben schätzen, selbst festgestellt, dass das, was sie mit dem Spionieren verdienten, viel weniger wert war als die verlorene Freiheit. Dies umso mehr, als Adelige, Minister und die hohe Geistlichkeit, welche von Leopolds Verboten ausgenommen waren, weiterhin prassten, feierten und sich nach Belieben ausstaffierten. Ja, bei ihnen war es Mode, einen Bauch zu haben (ein Zeichen von Ansehen und Wohlstand), über den die damals beliebten Allongeperücken fielen und den Mächtigen eine unverwechselbare Birnenform verliehen.
«Wie erklärst du dir dann», wandte ich ein, «dass man in den Häusern der Bauern, wo du und ich die Kamine reinigen, auf dem Tisch Bestecke aus geschnitztem Elfenbein, Teller aus schönster Keramik, Gardinen und Tischtücher mit wunderbaren Spitzen, bemalte Gläser, weiche Sessel und mit raffinierter Kunst dekorierte Öfen sieht? Sogar in den Häuschen auf dem Lande ist die Vorratskammer immer voll, und aus der Küche kommt ein Duft, dass dir das Wasser im Munde zusammenläuft.»
«Die Zustände haben sich jetzt sehr gebessert», sagte Simonis.
Des ewigen Spionierens müde, erklärte er, hatten die Wiener endlich begonnen, bei Gesetzesbrüchen des Nachbarn ein Auge zuzudrücken. Leopold, der die erste Verordnung im Jahre 1659 erlassen hatte, musste sie 1671,1686, 1687 und dann noch mehrmals wiederholen, denn die Bürger stellten sich mittlerweile taub, und viele Schlaumeier hatten Mittel und Wege gefunden, die Verordnungen zu umgehen, indem sie Luxuswaren unter dem Namen bescheidenerer Artikel in Umlauf brachten.
«Ihr werdet daher ohne weiteres verstehen, Herr Meister, dass die Wiener sehr erleichtert waren, als der alte Kaiser Leopold nach fünfzig Jahren Regentschaft endlich starb. Und die Spione, wie Danilo, verdienten weniger als früher, weil die Toleranz sich endlich Bahn bereitet hatte, vornehmlich mit Joseph, welcher das genaue Gegenteil seines Vaters ist. Er liebt den Luxus, die Schönheit und den Pomp.»
«Woher weißt du eigentlich, dass Danilo ein Spion ist? Müsste es nicht ein geheimes Gewerbe sein?»
«Herr Meister, dem geübten Auge eines Studenten entgeht nichts. Und wir, Danilos Kameraden, sind zu viele, als dass er es unbemerkt vor unserer Nase tun könnte.»
«Was Danilo Danilowitsch da treibt, macht einem Studenten wahrlich keine Ehre; umso weniger einem Grafen, auch wenn er bettelarm ist.»
«Aber Danilo ist ein Graf aus Pontevedro, Herr Meister, und Pontevedro liegt mitten in Halb-Asien, erinnert Ihr Euch?», entgegnete er mir mit einem verschwörerischen Lächeln. «Geradeso wie diese Bestie hier, mein Pennal. Stimmt’s, Penicek, dass auch du eine halb-asiatische Bestie bist? Nicken, Pennal!»
Der arme Penicek drehte sich zu uns um und nickte.
«Mehr, Pennal! Und zeig, dass du zufrieden bist!», tadelte ihn der Grieche.
Penicek gehorchte, wackelte zum Zeichen der Zustimmung heftig mit dem Kopf und setzte ein blödes Grinsen auf.
«Ja, Simonis, ich entsinne mich, dass du mir bei der Deposition kurz von Halb-Asien gesprochen hast», sagte ich, während ich befremdet die Szene beobachtete, in die ich jedoch nicht eingreifen
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