Veritas
Schrei der vierzigtausend Märtyrer», wiederholte er nachdenklich, «und dann dieser geheimnisvolle Eyyub … Das scheint mir das Delirium eines unglücklichen Sterbenden zu sein. Danilo Danilowitsch mag sich ja nebenbei auch über den Goldenen Apfel informiert haben, doch für mich ist die Angelegenheit sonnenklar. Die Türken haben nichts damit zu tun, euer Freund hat das traurige Ende genommen, das man als pontevedrischer Spion erwarten darf.»
Das Mittagessen mit Atto Melani hatte mich aus zwei Gründen beunruhigt: Gänzlich ungeniert war der Abbé meinen Fragen nach der türkischen Ambassade ausgewichen, als wäre dieses Ereignis vollkommen unbedeutend, um mich stattdessen mit einer unerquicklichen Abfolge läppischer Betrachtungen über die Wiener Lebensart zu überhäufen. Eine gar zu kühle Reaktion, sagte ich mir, für einen eingefleischten Diplomaten wie Atto, der nach jeder Intrige, jedem Spiel hinter den Kulissen, jeder kleinsten Neuigkeit auf der politischen Bühne gierte.
Den zweiten Grund zur Beunruhigung gab die Art und Weise, wie er den Tod des armen Danilo Danilowitsch heruntergespielt hatte. Warum nur hatte er einerseits die letzten Worte, die Danilo vor seinem Hinscheiden ausgesprochen hatte, mit Interesse vernommen, andererseits aber jeden Verdacht von den Türken ablenken wollen?
Nun kündigte Atto mir an, am Nachmittag werde er wieder versuchen, sich der Pállfy zu nähern. Ich schwieg dazu. Soll er doch allein sehen, wie er zurechtkommt, dachte ich.
Ich hatte mit Simonis eine wichtige Verabredung: Seine Studienkameraden würden sich versammeln und mir berichten, was sie über den Goldenen Apfel herausgefunden hatten.
Wenig später saß ich schon neben Simonis auf Peniceks Kalesche. Allmählich lernte ich es zu schätzen, dass mein Gehilfe einen gehorsamen Pennal einschließlich Beförderungsmittel zur Verfügung hatte, mochte er auch hinken. Simonis hatte einen Sklaven, dessen konnte nicht einmal ich, obgleich ich sein Brotherr war, mich rühmen.
Zu Beginn unserer Fahrt herrschte Schweigen. Die Erinnerung an Danilos Tod stand zwischen uns. Leicht ließ sich behaupten, er sei seiner gefährlichen Tätigkeit als Denunziant geschuldet, wie Melani sofort geschlossen hatte. Doch der Verdacht, dass der Ärmste wegen seiner Kenntnisse über den Goldenen Apfel ermordet worden war, geisterte uns in den Köpfen, obwohl wir keinen genauen Anhaltspunkt hatten, und ließ Tropfen bitterer Reue wie Schwefelsäure auf unser Herz fallen. Ich begegnete Simonis’ Blick, der gedankenschwer auf mir ruhte.
«Herr Meister, Ihr habt mich noch gar nicht gefragt», begann er, sich zu einem Lächeln zwingend, «welchem Gewerbe meine Kameraden nachgehen, um sich das Studium zu finanzieren.»
Der Grieche versuchte, den Vorhang des kummervollen Schweigens zu zerreißen.
«Stimmt», gab ich zu, «ich weiß fast nichts über sie.»
Angesichts der dubiosen Beschäftigung des armen Danilo und der rechtswidrigen Peniceks war ich neugierig und misstrauisch zugleich.
«Koloman Szupán ist der Reichste von allen», informierte mich Simonis, «denn er arbeitet als Ober. Dass unser hier anwesender Pennal Kutscher ist, wisst Ihr bereits. Dragomir Populescu hat wenig Zeit, sich seine Brötchen zu verdienen: Er ist fast ununterbrochen mit Frauen beschäftigt. Bei allen versucht er es, aber er hat fast nie Erfolg. Koloman hingegen versucht es kaum, hat aber immer Erfolg.»
«Ach ja? Und wie macht er das?»
«Er verfügt über … wie soll ich sagen … außergewöhnliche Fähigkeiten», sagte Simonis lächelnd. «Die Kunde hat sich unter den jungen Wienerinnen verbreitet, die genau das zu schätzen wissen, und bei Koloman sind sie immer sehr zufrieden. Wenn Ihr Glück habt, Herr Meister, erhalten wir binnen Kürze einen Beweis seines Könnens.»
«Einen Beweis?»
«Es ist drei Uhr nachmittags, und um diese Zeit ist Koloman immer am Werk. Er hat einfach zu viel Energie; jeden Tag um diese Zeit muss er sich ausleben, sonst wird er traurig. Wenn er kein Täubchen zur Hand hat, egal wo, ist er imstande, zum erstbesten Fenster hinaufzuklettern, über Dächer und Kamine zu steigen, um zu einer willigen Schönen zu gelangen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.»
Wir waren vor einem bescheidenen Häuschen bei den Bastionen angekommen. Nachdem er Penicek befohlen hatte, draußen auf uns zu warten, klopfte der Grieche an die Tür. Ein junger Mann öffnete, der uns sofort warnte:
«Er ist oben und hat zu tun.»
Simonis
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