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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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fand man in den Küchen der Wiener Gaststätten eine unvorstellbar große Menge an Fischen, zudem von einer Vielfalt, wie nicht einmal in Italien üblich. Sogar in den Bergen Tirols gab es Menschen, wie den berühmten Arzt Guarinoni (wieder ein Italiener), die zu vorsichtigem Umgange mit dem überreichen Angebot rieten: Fische aus Gebirgsbächen, Flüssen, Teichen oder dem Meer, die aus so abgelegenen Gegenden stammten wie dem ungarischen Plattensee, aus Böhmen, Mähren, Galizien, Bosnien oder von der italienischen Küste bei Triest. Aus Venedig kamen mit der Eilpost Berge von Austern, Seeschnecken, Miesmuscheln, Krebse und Seeigel, Frösche und Meeresschildkröten an, und andere Spezialitäten gelangten auf Sondertransporten sogar aus Holland oder dem weit entfernten Nordmeer nach Wien.
    «Zugegeben, sie werden unter Eisblöcke gelegt, aber fragt mich nicht, wie zum Teufel sie nach einer so langen Reise frisch ankommen können, denn das habe ich auch nie begriffen», setzte Koloman hinzu.
    Da die meisten Wiener es schwer ertrugen, bis Ostern auf den Genuss von Fleisch zu verzichten, und Wassertier ja eben Wassertier ist, tauchten auf den Speisekarten der Fastenzeit nebst Fischen und Krustentieren sogar Otter und Biber auf!
    Abraham a Sancta Clara hatte wahrhaftig recht, dachte ich, als er sagte, in Wien könne sich kein Tier, lebe es nun auf der Erde, in der Luft oder im Wasser, sicher wähnen, nicht im Kochtopf zu landen.
    «Diese Wiener», fügte Koloman hinzu, «haben ihren Appetit nicht mal gezügelt, als ihnen die Türken im Nacken saßen.»
    «Was haben die Türken damit zu tun?»
    Er erklärte mir, dass selbst während der berühmten Belagerung von 1683, die bereits in die Geschichte eingegangen war, den Wienern die Lust am guten Essen nicht vergangen sei. Während die Stadt kurz davor stand, erobert und dem Erdboden gleichgemacht zu werden, verließen Scharen von Wienern, darunter auch Frauen und Kinder, unter großer Gefahr nachts die Festung und gingen Brot von den Türken kaufen.
    «Die Türken verkauften ihnen Brot?»
    «Unter ihnen gab es viele sehr arme Soldaten, die Geld brauchten. Und im türkischen Lager fehlte es nie an Brot.»
    Wer sich eines solchen Handels schuldig machte, wurde in beiden Lagern bestraft, sowohl bei den Christen (dreihundert Peitschenhiebe) als auch bei den Osmanen. Dennoch konnten derlei Umtriebe durchaus nicht eingedämmt werden, erklärte Koloman. Und außerdem war in Wien der Durst ein Problem.
    «Ja, natürlich, das Wasser …», nickte ich.
    «Nein, Wasser gab es genügend. Es fehlte ihnen an Wein.»
    Da in der Seele des Wiener Bürgers der Feinschmecker immer über den Soldaten triumphiert, wurden häufig ganze Wagenladungen Wein aus den umliegenden Anbaugebieten abgefangen und bei Anbruch der Dunkelheit heimlich in die Stadt geschafft. Manchmal ereigneten sich schier unglaubliche Dinge. Zum Beispiel gelang es den Belagerten, sich während der hitzigsten Gefechte hinter den türkischen Linien (wie das möglich war, ist ein Geheimnis) eine ganze Rinderherde aus über hundert Tieren zu besorgen.
    Mit kaum verhehlter Enttäuschung vernahm ich von diesen Ereignissen im Hintergrund der großen Belagerung. Wie oft hatte ich an den heroischen Widerstand der Wiener gedacht! Und jetzt musste ich entdecken, dass er alles andere als das gewesen war.
    «Von wegen Helden ohne Furcht und Tadel!», bemerkte ich entsetzt.
    «Furcht hatten sie gewiss nicht. Tadeln musste man sie dagegen schon: wegen all der Wein- und Fettflecken an Kragen und Ärmeln», lachte Koloman.
    Man stelle sich nur vor, erzählte er zum Abschluss, dass es während der Belagerung von 1683 sogar einen Verräter gab, der den Türken eine überaus wertvolle Information aus der belagerten Stadt übermittelte: Im Inneren der Festung sei der Zusammenhalt zwischen der Zivilbevölkerung und den Soldaten erschüttert; die Wiener seien erschöpft und wollten sich ergeben.
    «Es war der 5. September. Fast niemand weiß von dieser Begebenheit, die den Lauf der Geschichte hätte ändern können. Aus unerfindlichen Gründen griffen die Türken nicht sofort an, zum Glück! Sechs Tage später traf die Verstärkung ein, und die christlichen Armeen siegten.»
    Ich hingegen wusste, warum die Türken Wien nicht sofort angegriffen hatten. Ich hatte es vor zwanzig Jahren in Rom, zusammen mit Abbé Melani, herausgefunden. Aber das war eine zu komplizierte Geschichte, und wenn ich sie Koloman erzählt hätte, hätte er mir nicht

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