Veritas
nicht», antwortete Simonis. «Doch halt, jetzt, wo ich drüber nachdenke, fällt mir etwas ein: Wenn er eine wichtige Partie spielte und unschlüssig über einen Zug war, hielt er fast immer eine der Figuren, die er dem Gegner abgenommen hatte, in der Hand. Ich habe seine Kumpane oft gegeneinander spielen sehen. Es gibt Schachspieler, die sich am Kopf kratzen, andere zappeln mit den Füßen unter dem Tisch, wieder andere bohren in der Nase. Er reagierte sich an den ausgeschiedenen Figuren ab. Einmal habe ich beobachtet, wie er bei einer Partie fast eine Stunde lang mit dem Pferd herumspielte, er ließ es wie besessen unaufhörlich von einer Hand in die andere wandern.»
«Also hatte er heute, bevor er verfolgt wurde, den weißen König wahrscheinlich schon in der Hand», schlussfolgerte ich. «Während der Flucht hat er sicher keine Zeit damit verloren, ihn wieder in das Säckchen zu stecken. Doch warum hatte er den König in der Hand? Er hatte ja gar nicht Schach gespielt.»
In diesem Augenblick hörten wir es wieder: dasselbe knirschende Geräusch wie zuvor. Dann vernahmen wir einen Schuss: Eine Kugel zischte dicht an uns vorbei und verlor sich im Schnee. Zwei Schatten sprangen zwischen den Bäumen hervor. Ohne uns noch anzusehen, ergriffen wir beide die Flucht. Simonis stürzte schon in Richtung Donau davon, als mir etwas einfiel:
«Hierher!», schrie ich ihm zu und lenkte ihn zu den Schlitten.
Wenige Sekunden später sausten wir den Abhang des Hügels hinab, die Schritte der Verfolger hinter uns. Mein Schlitten war kaum größer als ein Spielzeug, doch gerade weil er dem Schnee nur eine geringe Reibungsfläche bot, schoss er talwärts wie ein Projektil. Vor mir sah ich Simonis, der dank seines größeren Körpergewichts noch schneller in die Tiefe raste. Plötzlich hatte ich einen Baumstamm vor mir, doppelt so breit wie mein Schlitten. Ich wich nach rechts aus und bremste leicht mit den Füßen ab, um nicht in den Schnee zu stürzen, doch schon fuhr ich auf einen Busch zu, dem ich wie durch ein Wunder ausweichen konnte, indem ich mein Gewicht auf die linke Seite verlagerte.
Erst als ich wieder an Geschwindigkeit gewonnen hatte, blickte ich hinter mich. Vorsichtig die Baumstämme meidend, waren die beiden Unbekannten uns immer noch auf den Fersen, obwohl sie auf dem schneebedeckten, steinigen Abhang nur mühsam vorankamen.
Als mein Schlitten auf einen großen Stein auffuhr, der aus dem Erdreich ragte, und ich ihn fluchend wieder auf die Piste setzte, sah ich mit einem schnellen Blick nach hinten, dass mein Vorsprung vor den Verfolgern sich verringert hatte.
Bald schon steckte mein Schlitten erneut fest, diesmal auf einer Stelle am Boden, wo die Schneedecke zu dünn war. Ich stieg ab und begann zu laufen. Simonis hatte ich aus den Augen verloren, denn er war viel weiter ins Tal hinabgefahren. Hinter mir hörte ich die Stimmen unserer Verfolger, und als ich mich umwandte, sah ich, dass auch sie sich trennten, einer blieb hinter mir, der andere machte sich auf die Suche nach Simonis.
Den Himmel anflehend, dass die beiden kein Italienisch verstanden und dass der Grieche mich hören könnte, schrie ich aus Leibeskräften: «Simonis, lauf nach rechts, zum Kanal!» Auch ich hätte nach rechts abbiegen und mein Schicksal mit Simonis teilen können. Stattdessen beschloss ich, weiter geradeaus zu laufen: Vor mir lag noch ein gutes Stück des steilen Abhangs, und ich hatte gesehen, dass ich bei dem Wettlauf mit meinem Angreifer auf dem abschüssigen Gelände im Vorteil war. Tatsächlich hörte ich seine Schritte nicht mehr im Rücken. Da erschütterte jäh ein Knall die Stille des Praters. Er hatte wieder geschossen. Die Rinde eines Baumes zu meiner Rechten spritzte mit tausend Splittern durch die Luft. Mein Feind, sicher gleichfalls erschöpft von der Verfolgungsjagd, hatte offenbar beschlossen, mir nicht mehr mit der blanken Waffe entgegenzutreten, sondern mich sofort aus dem Weg zu räumen. Ich begann im Zickzack zu laufen und versuchte, möglichst viele Bäume zwischen mir und meinen Verfolgern zu lassen. Wie lange würden meine Füße mich noch tragen? Meine Zehen waren taub, ich spürte gar nichts mehr, ich hätte nicht einmal schwören können, dass ich Schuhe an den Füßen trug.
Wieder ein Schuss über meinem Kopf, ein Zweig brach splitternd. Der Kerl lud seine Pistole verflucht schnell nach. Jedes Mal, wenn er die Waffe wieder schussbereit machte, verlor er an Boden, aber ach, leider nicht
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