Veritas
Personen und Tieren lagen auf dem Ufersand, wenige Schritte von den Wassern der Donau entfernt. Von Simonis keine Spur. Gerade wollten wir umkehren, als wir den Ruf hörten:
«Herr Meister!»
«Simonis!» Ich lief ihm entgegen.
Er hatte sich unter einem der kopfüber lagernden Boote versteckt, das ihn beschützt hatte wie der Panzer einer Schildkröte.
«Dieser Elende hat mich bis vor wenigen Augenblicken noch gejagt», erzählte er, keuchend vor Angst und Erschöpfung. «Ich war schon sicher, er würde mich gleich entdecken, aber dann muss er Euch gesehen haben. Er ist in diese Richtung gegangen», sagte er und wies ungefähr auf die Stelle, wo auch mein Verfolger sich verflüchtigt hatte.
«Sie werden sich wieder zusammengetan haben, um den Prater gemeinsam zu verlassen», schloss der Pennal. «Natürlich vermeiden sie, durch jenen Spalt zu schlüpfen, den wir benutzt haben.»
Ich berichtete Simonis, wie Penicek mir das Leben gerettet hatte.
«Seid Ihr verletzt, Herr Meister?», fragte mein Gehilfe.
Darauf erklärte ich ihm ausführlich, was geschehen war, und zeigte ihm das Schachbrett des armen Hristo und die von der Kugel verbeulte Eisenplatte.
«Jetzt lasst uns zurückgehen, bevor die beiden sich anders besinnen und wieder auftauchen», drängte ich.
Noch einmal wanderten unsere Schatten über die eiskalten Wiesen des Praters und hinterließen nur drei Paar Spuren. Die Schuhe des armen Hristo, die mit den unseren durch die weiche Schneedecke hätten pflügen sollen, zerhackte bereits grausam der Schnabel eines Raben.
20. Stunde, wenn die Beisln und Bierhäusl ihre Pforten schließen
«Wie bedeutend Landau ist, kann man nur verstehen, wenn man sich eine Landkarte ansieht», sagte Atto, indem er mit seinen alten, knochigen Händen die Silhouette Europas in die Luft zeichnete.
Zurück in der Himmelpfortgasse, hatte ich das brennende Bedürfnis verspürt, mit Abbé Melani zu sprechen, ihm von den Ereignissen zu erzählen, Trost und Rat zu erhalten, sonderlich aber ihm in die Augen zu blicken, um seine Reaktion auf meinen Bericht zu erforschen. Ich wollte verstehen, ob Atto etwas mit Hristos Tod zu tun hatte oder ob der Schachspieler und sein Kamerad Danilo für ihre anrüchigen Gewerbe hatten büßen müssen.
Also hatte ich, das Gesicht mit schlammigem Schnee besprenkelt, die Glieder halb erfroren und in Gedanken noch immer bei dem jungen Bulgaren, an dessen Tod womöglich einzig ich die Schuld trug, an Attos Tür geklopft.
Der Neffe hatte mir geöffnet. Sein Gesicht war verquollen, die Stimme heiser, und eine Reihe kräftiger Niesanfälle schüttelte ihn. Eine gehörige Erkältung hatte ihn übel zugerichtet.
Verwundert konstatierte er mein verheerendes Äußeres, zumal zu so später Stunde. Melani lag schon im Bett.
«Verzeiht bitte, Signor Atto», hub ich an, «ich wusste ja nicht, dass …»
«Keine Sorge. Ich habe mich nur aus Langeweile hingelegt. Was bleibt einem blinden, alten Mann, der in einem Kloster untergekommen ist, schon anderes übrig, als mit den Hühnern schlafen zu gehen?»
«Wenn Ihr ruhen wollt, gehe ich …»
«Im Gegenteil. Ich habe schon nach dir suchen lassen. Diese verflixte Gräfin Pálffy: Den ganzen Nachmittag lang habe ich ihre Haustür beschatten lassen, doch vergeblich. Sie mag ja die Geliebte des Kaisers sein, aber sie führt das Leben einer Nonne. Nicht zu vergleichen mit der Montespan … Wirklich tugendhaft, diese Österreicher, sogar die Ehebrecher! Tugendhaft und ennuyant.»
«Signor Atto, ich habe eine schlimme Nachricht. Hristo Hadji-Tanjov, ein anderer Freund von Simonis, ist tot. Man hat mit einem Messer auf ihn eingestochen und ihn dann im Schnee erstickt.»
Ich erzählte ihm von den schrecklichen Geschehnissen im Prater und wie ich selbst mit knapper Not dem Tode entronnen war. Er hörte mir schweigend zu. Fassungslos bekreuzigte Domenico sich während meiner Schilderung und murmelte, wo um Himmels willen man hier denn hingeraten sei, nach Wien oder in die Hölle.
Am Schluss fragte Atto: «Wie hieß dieser Hristo mit Nachnamen?»
«Hadji-Tanjov.»
«Ha … wie?»
«Es wird Hadschitaniof ausgesprochen, er war Bulgare.»
Melani hob arrogant die Augenbrauen, als wollte er sagen: «Das habe ich mir gedacht.»
«Ein halber Türke also», bemerkte er dann verächtlich.
«Wie das?», wunderte ich mich.
«Ich sehe, dass du in Geographie ebenso wenig bewandert bist wie in Geschichte. Bulgarien befindet sich seit vierhundert Jahren unter dem
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