Veritas
sie Cloridia, ging sie zu ihr und umarmte sie.
«Camilla …», murmelte meine Frau beim Anblick des jungen, von Schmerz und Trauer entstellten Gesichts.
Die Chormeisterin bedeutete uns, ihr zu folgen, sie musste die Kerzen löschen. Die Flammen spiegelten sich in ihren tränenüberströmten Wangen, und vergeblich versuchte sie, ihr Schluchzen zu unterdrücken, indem sie Cloridias Hand fest gedrückt hielt.
Seit dem frühen Morgen sprach in der Stadt alles davon. Zunächst war die Kunde wie ein Gerücht umgelaufen, dann hatten sich die Informationen verdichtet, bis wie aus heiterem Himmel der Befehl erging, zu jeder vollen Stunde öffentliche Gebete mit Aussetzung des Allerheiligsten sowohl in der Kaiserlichen Kapelle als auch im Stephansdom zu veranstalten. In der Kaiserlichen Kapelle waren alsbald von Stunde zu Stunde sämtliche Mitglieder des Hofes nacheinander eingetroffen: die Tribunali, die Minister, die Granden, die Kavaliere, die Hofdamen und die anderen Höflinge. Und ebenso hatten in der Kathedrale am Nachmittag die Gebete unter Leitung des Monsignore Fürstbischof persönlich und des gesamten Domkapitels begonnen, und in Prozessionen herbeigeströmt waren religiöse Orden, Bruderschaften, Schulen, Künste und Gewerbe sowie das Personal der Spitäler, stets unter Beteiligung des Volkes, das bekümmert und mit frommer Andacht um göttliche Fürsprache gefleht hatte.
Die Gebete hatten sich sodann in allen anderen Pfarreien in und außerhalb der Stadt fortgesetzt. Man hatte sogar Sonderkuriere in das gesamte Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns ausgesandt, um das Vierzigstundengebet anzukündigen, auf dass es – wie man im Aufruf lesen konnte – Ihrer Göttlichen Majestät gefallen möge, unserem Allergnädigsten und Erlauchtesten Monarchen längere Lebenszeit und glückliches Regieren zu gewähren, zum Troste seines ergebenen Volks und der Frommen der gesamten Christenheit, sintemalen inmitten dieser so gefährlichen, ernsten Fährnisse des Krieges, in welche ganz Europa sich verwickelt fand.
Sogar die in der Kaiserstadt ansässigen Osmanen und Juden hatten außerordentliche Gebets- und Fastentage angeordnet und Almosen verteilt.
Der Kaiser war krank. Seit ein paar Tagen schon lag er zu Bette, von allem und jedem abgesondert, keiner durfte sich ihm nähern. Doch nicht, weil Joseph der Sieghafte nicht in der Lage war, Gespräche zu führen oder der Ministerkonferenz zu präsidieren, sondern weil seine Krankheit ansteckend war. Und tödlich. Denn die Diagnose der Ärzte war eindeutig: Blattern.
«Wie Ferdinand IV, ganz genau wie er», schluchzte Camilla.
In meiner Brust pochten die düstersten Vorahnungen.
Meine Gedanken gingen zurück zu Ferdinand IV, dem jungen Deutschrömischen König, der vor fünfzig Jahren von den Blattern dahingerafft wurde. Der Erstgeborene des Kaisers Ferdinand III. und älterer Bruder Leopolds war mit kaum einundzwanzig Jahren überraschend gestorben. Ich kannte die Geschichte des Wunderkindes Ferdinand aus den Büchern, welche ich bei der Ankunft in Wien erworben hatte: Auf seine außergewöhnlichen Talente hatte der Vater alle Hoffnungen gesetzt, das Reich nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg wieder zur einstigen Größe erheben zu können. Die Tragödie hatte sich in einem so heiklen Augenblick ereignet, dass das Haus Habsburg sogar Gefahr lief, die Kaiserkrone zu verlieren. Denn Frankreich hatte die Situation sofort genutzt, um Leopolds Wahl zum Kaiser zu behindern, und dieser musste die protestantischen Fürsten mit ungeheuren Geldsummen bedenken, um sich wählen zu lassen, ja, er hatte vor ihnen mit einem feierlichen Schwur darauf verzichten müssen, die spanischen Habsburger im Krieg gegen Frankreich zu unterstützen. So hatte der französischspanische Krieg mit der Niederlage Spaniens geendet, und König Philipp IV. war gezwungen gewesen, Ludwig XIV. statt Leopold die Hand seiner Tochter Maria Theresa zu geben. Und genau aus dieser Heirat leitete sich das französische Anrecht auf den spanischen Thron ab, das den Grund für den gegenwärtigen Krieg um die spanische Erbfolge bildete. Kurzum, wenn Ferdinand nicht so früh und unerwartet gestorben wäre, hätten die französischen Bourbonen sich nicht mit den spanischen Habsburgern verschwägert, und der spanische Erbfolgekrieg wäre nicht ausgebrochen.
Obwohl der junge Ferdinand, ein ungewöhnlicher, schöner Mann, sich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreute, war er den Blattern rasch erlegen.
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