Veritas
Sollte Atto Melani, der Agent des Feindes, entdeckt werden, würde ich gemeinsam mit ihm am Galgen enden. Dann würde auch das Geheimnis um den Kopf, der – das war inzwischen klar – den Schlüssel zu allem barg, ungelöst bleiben. Doch noch musste ich eine Möglichkeit finden, die Wahrheit aus dem Heiligenfledderer herauszukitzeln. Ich versuchte es auf einem anderen Weg:
«Ugonio, hast du schon einmal etwas vom Goldenen Apfel gehört?»
Er hielt den Atem an. Diese Frage hatte er nicht erwartet.
«Das ist eine komplikatiöse und furchtbarliche Historie», sagte er dann und begann zu erzählen.
Nach Ugonios Bericht hatte die Geschichte vor drei Jahren begonnen. Wie wir schon wussten, war im Jahre 1708 eine Schwester Josephs des Sieghaften, Anna Maria, mit dem König von Portugal, Johann V., vermählt worden. Wenige Monate später erfuhr die junge Königin durch die Damen ihres neuen Hofstaats von einer seltsamen Weissagung. Der Krieg um die spanische Erbfolge, der in ganz Europa tobte, könne von Österreich nur gewonnen werden, wenn der ursprüngliche Goldene Apfel des Justinian, welcher die Herrschaft über das christliche Abendland sichert, auf die höchste Spitze der heiligsten Kirche der Kaiserlichen Hauptstadt, also den Glockenturm des Stephansdoms, gesetzt würde, und zwar statt der gotteslästerlichen Kugel, die Süleyman auf der Kirchturmspitze hatte anbringen lassen. Nun war aber der Goldene Apfel Justinians auf mysteriösen Wegen nach Spanien und von dort nach Portugal geraten. Mehr noch: Kaiser Ferdinand I. hatte das Heilige Kreuz Christi auf Süleymans Kugel schmieden lassen, und was ihn dazu bewogen hatte, war ein Ereignis, welches bestürzend zu nennen noch zu wenig wäre: Kaum hatte nämlich der Sultan die Belagerung der Kaiserlichen Hauptstadt aufgegeben, zeigte sich am helllichten Tag hoch am Himmel niemand Geringeres als der Erzengel Michael und ritzte mit der leuchtenden Spitze seines gezückten Schwertes eine geheimnisvolle Botschaft aus flammenden Buchstaben in den Sockel, darauf die gotteslästerliche Kugel ruhte.
«Nach der Überlieferung ist es just der Erzengel Michael, der den Reichsapfel in der Hand hält, während er Luzifer mit seinem Schwert in Form des Heiligsten Kreuzes verjagt», staunte ich, mich der Erzählung von Koloman Szupán entsinnend.
«Gaunz gnau!», versetzte Ugonio.
Der Heiligenfledderer fuhr fort. Siebenmal senkte der Erzengel sein Schwert auf das Piedestal, und sieben Worte waren es, die er dort einritzte. Die unter dem Schwert hervorstiebenden Funken wurden von einer großen, auf dem Platz vor dem Stephansdom sich drängenden Menge Gläubiger gesehen. Sie alle bezeugten ohne den Hauch eines Zweifels die Wahrhaftigkeit des wunderbaren Ereignisses, und der Kaiser schickte sofort zwei einfache Tagelöhner auf die Turmspitze, damit sie getreulich kopierten, was der Erzengel dort geschrieben hatte. Die beiden Männer waren zuvor sorgfältig unter den Analphabeten ausgewählt worden, damit niemand außer dem Kaiser von dem Geheimnis erführe. Was ihm alsdann überreicht wurde, erschütterte ihn so sehr, dass er die ganze Nacht bäuchlings auf dem Boden ausgestreckt in der Kaiserlichen Kapelle betete. Am nächsten Tag befahl er, unverzüglich das Heiligste Kreuz des Erlösers auf die blasphemische Kugel zu setzen und sie so in den Reichsapfel des Erzengels Michael zu verwandeln. Niemals aber hat Ferdinand I. auch nur einem Menschen anvertrauen wollen, was der Erzengel geschrieben hatte. Er nahm sein Geheimnis mit ins Grab. Nach seinem Tod hat man mehrmals versucht, jemanden hinaufzuschicken, dass er die Botschaft an der Kirchturmspitze läse, doch immer wieder vereitelte ein Unglück dies Vorhaben: Einer war abgestürzt, ein anderer wurde von einem plötzlichen Funken aus dem Himmel geblendet und fiel ebenfalls hinab et coetera et coetera . Man munkelte sogar, ein Geistlicher aus dem Domkapitel habe sich in einer Vollmondnacht dort hinaufgewagt, doch mehr wusste man nicht. Es hieß nämlich, dass die Botschaft des Erzengels mit einem ausdrücklichen Schweigegebot endete.
Diese Geschichten über den Goldenen Apfel und den Erzengel Michael wurden der Schwester Josephs I., der jungen Braut des Königs von Portugal, berichtet. Und nicht lange danach machte sich aus Lissabon ein Fliegendes Schiff auf den Weg, mit einem geheimen Antriebsmechanismus ausgestattet und gelenkt von einer mysteriösen Person, deren Identität niemand kannte. Sie hatte den Auftrag, den wahren
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