Veritas
Kaiser geht es besser. Der Verlauf der Krankheit scheint gutartig zu sein, die Ärzte glauben, dass Ihre Majestät binnen weniger Tage nicht nur außer Gefahr, sondern wieder bei bester Gesundheit sein wird.»
Die öffentlichen Bittgebete, die am Vortage in der ganzen Stadt, vorzüglich im Stephansdom, begonnen hatten, waren hilfreich gewesen. Darum würde man nun weitere sechs Tage lang die heiligen Gebete sprechen, damit der Himmel das Flehen der kaiserlichen Untertanen voll und ganz erhöre. Vorzüglich aber hatte man das Vierzigstundengebet eingeleitet, welches schon vor einigen Jahren wegen einer gefährlichen Krankheit des Erzherzogs Karl, Josephs jüngerem Bruder, angeordnet worden war und dann mit göttlichem Beistand zum glücklichen Ausgange geführt hatte. Das Gebet durfte nur von Männern gesprochen werden und währte eine Woche. Sechs Stunden am Tag mussten sie beten, jeder Turnus war (kaum bedarf es der Erwähnung) nach gesellschaftlichen Schichten unterteilt. Am ersten Tag, dem gestrigen Sonntag also, hatte die Kaiserliche Familie begonnen, heute war der Adel an der Reihe, dann würden die fünf gesellschaftlichen Klassen beten, natürlich während der Arbeitszeit: von acht bis elf und von fünfzehn bis achtzehn Uhr. Am siebten Tag würden wir Handwerker und die Händler mit ihren Untergebenen das Gebet beschließen. Die Frauen waren während dieser Tage aufgefordert, mit größter Inbrunst in den Kirchen zu beten.
Wir jubelten über die wunderbare Nachricht. Simonis und ich umarmten die arme Camilla, die so sehr gelitten und sich schon auf die langen Wachen im Gebet vorbereitet hatte. Wir hatten nicht geschlafen und nicht einmal gefrühstückt, doch die Neuigkeit erquickte uns Geist und Sinne.
«Heute ist Montag, Simonis.»
«An die Arbeit, Herr Meister», antwortete mein Gehilfe mit seinem dümmlichen Lächeln, das stets Vertrauen einflößte.
Die Arbeit, ja gewiss. Doch beide wussten wir, dass uns in Wahrheit das Geheimnis des Goldenen Apfels antrieb. Und die Antwort auf unsere Fragen erwartete uns dort drüben im Neugebäu, im Ort Ohne Namen.
7. Stunde: Es schlägt die Türkenglocke, auch Betglocke genannt.
Die Straße war endlich vom Schnee befreit. Überaus willkommen, dachte ich, war die Nachricht von der wahrscheinlichen Genesung des armen Kaisers. Doch das schwarze Wirrsal aus Unglück und Tod, in das diese Tage uns alle verstrickt hatten, war keineswegs aufgelöst: Während der Fahrt grübelte ich erneut über das entsetzliche Ende von Hristo und Danilo Danilowitsch, über die Ursachen der Krankheit Josephs des Sieghaften und über die unerwartete Neuigkeit, dass Hadji-Tanjov ein osmanischer Untertan gewesen war. Und was war von den rätselhaften Hinweisen des armen bulgarischen Studenten auf eine Verbindung zwischen soli soli soli und dem Schachmatt zu halten?
Auch der nächtliche Streit mit Abbé Melani musste noch beigelegt werden, wiewohl mein Verdacht alles andere als ausgeräumt war. Früher oder später würden Atto und ich wieder miteinander sprechen, und dann würde ich sein dubioses Verhalten vielleicht besser verstehen. Zugegeben, ein ernstes Übel hatte ihn befallen, als ich ihn beschuldigt hatte, den Tod des Kaisers zu planen. Doch das konnte auch die Verwirrung des in flagranti ertappten Schuldigen statt eines zu Unrecht angeklagten Unschuldigen sein. Ja, womöglich war es sogar eine geschickte Verstellung, um sich aus der Affäre zu ziehen und den Part des Unschuldslamms zu spielen – kannte ich die erstaunliche Wendigkeit dieses Heuchlers, Lügners und Betrügers nicht zur Genüge?
Am heutigen Tage erwartete uns im Neugebäu nicht nur die Erforschung des Fliegenden Schiffes, sondern auch eine Menge Arbeit. Auch fürchtete ich, auf Simonis’ Hilfe teilweise verzichten zu müssen, denn mein Gehilfe musste in der Stadt an der Zeremonie der Wiederaufnahme des Lehrbetriebs nach den Osterferien teilnehmen.
«Seid unbesorgt, Herr Meister», beruhigte er mich jedoch, «die Feier findet am Nachmittag statt.»
«Am Nachmittag? Und die Vorlesungen?»
«Die werden erst morgen wieder beginnen. Sonst gäbe es mehr Abwesende als Anwesende.»
«Und warum?»
«Die Studenten pflegen hierorts ihre Ferien bis zum letzten Moment auszunützen. Sie haben die ganze Nacht lang bis zum Morgengrauen gefeiert, gegessen und getrunken. Heute schnarcht die Studentenschaft der Alma Mater Rudolphina selig in den Kissen, um ihren Rausch auszuschlafen. Darum zieht man es klugerweise vor, die
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