Veritas
Wiedereröffnungszeremonie auf den Montagnachmittag zu verlegen und die Vorlesungen auf den Dienstag.»
Wir machten einen Halt in den Weinbergen des Himmelpfortklosters in Simmering, wo wir den Keller inspizierten und für die Reinigung des Rauchfangs sorgten, wie wir es der Chormeisterin versprochen hatten. Das Gebäude war sehr geräumig, und wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, uns ein wenig Wein abzuzapfen und ihn in dem gemütlichen Raum mit Kamin zu trinken.
Auf der Weiterfahrt kam mir plötzlich in den Sinn, dass es bei meinen beiden vorhergehenden Besuchen im Ort Ohne Namen keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit anderer Handwerker gegeben hatte. Auch Frosch, der griesgrämige Wächter des Neugebäus, hatte mir nicht gesagt, dass sich weitere Arbeiter oder Baumeister im Schloss und seinen Gärten aufhielten. Im Gegenteil, er schien vollkommen ahnungslos, was die vom Kaiser gewünschte Restaurierung betraf. Vermutlich, sagte ich mir, hatten Baumeister und Tischler es ebenfalls vorgezogen, die Schneeschmelze abzuwarten. Wer weiß, vielleicht würden auch sie in den nächsten Tagen eintreffen, um mit den Arbeiten zu beginnen. Dennoch kam mir die Sache merkwürdig vor, und ich beschloss, Frosch danach zu fragen.
Nach dem überraschenden Schneefall der letzten Tage schien die Natur nun zaghaft die schöne Jahreszeit anzukündigen. Der Schnee schmolz bereits, und das stechende Lüftchen und der trübe Morgennebel wichen endgültig vor den Strahlen des Tagesgestirns und dem kühlen, kristallklaren Äther des Wiener Frühlings.
Wir konnten den Ort Ohne Namen bereits erblicken, als die rosigen Finger der Morgenröte noch schüchtern über seine weißen Mauern strichen. Soeben tauchte ein feuriger Strahl, unsichtbare Pinsel schwingend, die Türme in rosa und goldene Farben und ließ die erste Patina ihrer blütenweißen Helligkeit aufschimmern. Kaum hatte der letzte Nebelschleier den Horizont freigegeben, trafen mächtige, freudige Sonnenstrahlen die Dächer des Kastells, die Fialen der Türmchen an den Außenmauern und die Spitzen der großen, sechseckigen Türme, worauf die Reflexe der Kupferschindeln in tausend Richtungen aufblitzten. So verbreitete sich, scharf und allgewaltig, von den Dächern des Ortes Ohne Namen gebrochen, das gerechte, gesegnete Licht der Sonne über die ganze Simmeringer Haide. Staunend legten wir uns die Hände vor die Augen, um von diesem hellen Aufleuchten nicht geblendet zu werden. Denn jeder Strauch, jeder Grashalm, jeder einzelne Stein schien von dem herrlichen, wiewohl fast unerträglichen Anblick überwältigt zu werden. Es war, als stünde das Schloss lichterloh in Flammen und würde doch in jedem Augenblick, eingebettet in die violette Stille der üppig bewachsenen Ebene, wie neu geschaffen aus dem Feuer entstehen. Welch ein eigenartiger Gegensatz, dachte ich, auf derselben Straße haben wir den finsteren Ciezeber verfolgt und stehen nun vor einer solchen Pracht.
«Seht nur!», rief mein Kleiner, auf die Sonne zeigend.
Gegen die blendende Helligkeit ankämpfend, blickte ich einige Sekunden in das Tagesgestirn.
«Sie ist blutrot, wieder ist sie blutrot!», stellte ich verstört fest.
Simonis sagte nichts zu dem sonderbaren Phänomen, das sich seit einigen Wochen von Zeit zu Zeit wiederholte und als Vorzeichen kommenden Unheils gedeutet ward.
Die Augen erneut mit den Händen abschirmend, fuhren wir langsamer, während das Schauspiel uns zugleich fesselte und blendete. Knarrend folgte der Karren mit unseren Werkzeugen, als ein Gruß aus der Ferne uns empfing. Er kam hinter dem Schloss selbst hervor, als ertöne er aus einem Jenseits, das nur zum Ort Ohne Namen gehörte: Durch den Frieden des Tagesanbruchs hallte gewaltig das dumpfe Gebrüll der Löwen.
Diesmal traten wir durch das Westtor ein, aus welchem wir beim letzten Mal hinausgegangen waren. Beim Überqueren des Haupthofs vor der Schlossfassade schaute ich mich wachsam um, denn die Erinnerung an das Abenteuer mit Mustafa ließ mich immer noch erbeben.
Der erste Gedanke galt natürlich dem Fliegenden Schiffe. Doch wir wurden enttäuscht. Als wir nämlich zum Ballspielplatz gelangten, stießen wir auf Frosch, der rastlos umherlief: Er brachte Futter in die Vogelkäfige vor dem Stadion und warf von Zeit zu Zeit Fleischstücke in die Gräben der wilden Tiere. Die Gelegenheit nutzend, wies der Wächter uns auf einen Durchschlupf hin, der sich unten in der Mauer eines der Gräben befand: Es war ein kleiner Tunnel,
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