Veritas
unvollendete Herrlichkeit, die immer noch auf Erlösung wartete.
Während wir die Mauern nach Rauchfängen absuchten, ging mir ein Datum quälend im Kopf herum: der 5. September, der Tag, von dem an Maximilian sich dem Tode genähert hatte. Auf dem Weg zu einer Studentenversammlung hatte Koloman Szupán uns erzählt, dass an ebendiesem Tag, während der großen Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683, ein Verräter aus der Stadt den Osmanen eröffnet hatte, dass Wien am Ende seiner Kräfte sei und sofort erobert werden könne. Doch dieser Tag tauchte auch in den Erinnerungen an mein erstes Abenteuer mit Atto vor achtundzwanzig Jahren auf: Am 5. September 1661 war Nicolas Fouquet, der französische Finanzminister und Freund Atto Melanis, arretiert worden, und sein Schicksal hatte sich dann in Rom, in der Herberge, in der ich damals arbeitete und Atto kennenlernte, tragisch vollendet. Der Tag der Verhaftung Fouquets war auch der Geburtstag des Sonnenkönigs: Der größte und mächtigste Herrscher von Europa war am 5. September geboren. Und schließlich der Tod Süleymans: wieder der 5. September.
Dieses Datum, der fünfte Tag des neunten Monats im Jahr, schien wie ein schicksalsträchtig wiederkehrender Stundenschlag der Geschichte Europas, doch auch meines eigenen Lebens. Der Sonnenkönig, der Kaiser Maximilian und der Sultan Süleyman, Fouquet, Wien, Rom, Paris: Es war, als würden diese großen Namen mich umtanzen, mich, ein winziges Nichts im großen Theater der menschlichen Begebnisse, als wäre mein Schicksal auf geheimnisvolle Weise mit ihnen verbunden. Oder war es nur die Einbildung eines armen Rauchfangkehrers?
Nachdem wir die Arbeit im linken und im zweiten, spiegelbildlichen Saal zur Rechten beendet hatten, traten wir auf die große Loggia hinaus, die auf den nördlichen Garten blickte. Sofort schlug uns die kalte, klare Winterluft ins Gesicht. Unermesslich boten sich dem Blick die Simmeringer Haide, die umliegenden, weiten Felder, die Stadtmauern Wiens in der Ferne und dahinter die grünenden Höhen des Kahlenbergs dar. Die Loggia wurde von zyklopischen Säulen aus einem einzigen Steinblock gestützt, ein kostbares Werk der Steinmetzkunst. Das sehr hohe Deckengewölbe über unseren Köpfen schien wie gemacht, riesige Fresken aufzunehmen, die Maximilian sich gewiss vorgestellt, vielleicht entworfen, vielleicht sogar zusammen mit seinen italienischen Künstlern skizziert hatte, die aber nie geschaffen wurden.
Aus den Wänden ragte eine waagerechte Reihe in Stein gemeißelter Stierköpfe feinster Machart hervor. Diese furchterregenden, würdevollen Tiere brachten in meinem Gedächtnis etwas zum Klingen. Woran erinnerten sie mich? Und dann begriff ich: Es war in Rom geschehen, vor achtundzwanzig Jahren, während meines ersten Abenteuers mit Abbé Melani. In den unterirdischen Gängen der Heiligen Stadt waren wir auf eine eigenartige Insel gestoßen, wo wir kostbare Reste aus alter römischer Zeit gefunden hatten, unter denen Atto, ausgezeichneter Kenner der Antike, ein Taurobolium erkannt hatte: ein heidnisches, religiöses Bild, das die Anhänger des Mithras-Kultes verehrten und auf welchem ein Skorpion und ein Stier abgebildet waren. Wieder ein Verweis, dachte ich, ein neuerliches Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Unaufhörlich warf mir der Ort Ohne Namen subtile Anspielungen vor die Füße, gleich einem verwickelten Knäuel, auf dass ich den Faden entwirrte und das Rätsel löste.
Noch einmal schweifte mein Blick über die große Loggia und das Panorama, das sich einem von hier aus darbot.
«Alles ist so grandios hier», seufzte ich, «und von nie gesehenem Ausmaß. Es ist wie die Villa Medici in Rom, oder wie venezianische Villen, und auch … ja, auch Versailles stelle ich mir so vor», sagte ich, auf die Gärten und die Brunnen weisend, die sich nördlich und südlich vom Schloss erstreckten, vor und hinter uns.
«Ich weiß nicht, ob es wie Versailles ist», antwortete Simonis, «aber jeder versteht, welch großes Juwel das Neugebäu hätte sein können, wenn es nicht zur Vergessenheit verdammt worden wäre.»
In diesem Augenblick hörten wir ein seltsames Geräusch aus dem Westflügel des Schlosses. Es klang wie eine Mischung aus einer Bucina und einem Donnerhall, und ich hätte nicht sagen können, ob es mechanischen oder menschlichen Ursprungs war, ob es von oben oder unten kam. Unwillkürlich wandte ich mich zu Simonis um, aber mein Gehilfe war ins Innere des Schlosses
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