Veritas
vorausgegangen und hatte nichts gehört. Aus dem großen Saal rief mein Kleiner nach uns. Er hatte uns überall gesucht, weil er Frosch aus dem Osteingang hatte herausgehen sehen. Der alte Wächter hatte sich offenbar in Richtung eines Landhauses entfernt. Dies war der Moment, den wir nutzen mussten.
Geduldig schien das Fliegende Schiff die Ankunft des Frühlings zu erwarten. Noch immer lag es träge auf dem gefrorenen Boden. Ich erklomm den großen Raubvogelflügel, stieg rasch in das Vorderschiff und kam dann wieder herunter.
«Wir müssen planmäßig suchen», sagte ich zu Simonis, «ich beginne mit dem Kiel, du suchst zuerst an Bord.»
Während Simonis über mir den Innenraum durchkämmte, erforschte ich den Rumpf des Schiffes vom Boden aus. Da ich müde von der Arbeit war und besorgt, dass Frosch bald zurückkehren könnte, begann ich die Jagd nach dem Goldenen Apfel in schlechtester seelischer Verfassung. Aber die Ambassade des Türkischen Agas, die undurchsichtige Position Eugens von Savoyen, der Fortgang des Krieges, der Tod Danilos und Hristos, die Ankunft des Abbé Melani, der Derwisch Ciezeber, die Krankheit des Kaisers, Ugonios seltsame Manöver, sogar das Fliegende Schiff selbst – alles schien sich auf irgendeine Weise um dieses Symbol zu drehen, und wir mussten der Sache auf den Grund gehen. Wenn wir die Geheimnisse nicht enträtselten, würde alles vom dunkelsten Nebel umhüllt bleiben, und ich würde vielleicht in die Machinationen des Abbé Melani verstrickt, ohne es zu gewahren. Ich hatte keine andere Wahl.
Gequält kratzte ich mit verrußten Fingern an dem eiskalten Holz des Schiffes, auf der Suche nach einem Loch, einem Geheimfach, einer Lade, die endlich das Symbol der Macht über das Abendland freigaben.
«Wenn wir doch nur erfahren könnten, wo dieses verfluchte Ding geblieben ist …», flüsterte ich in mich hinein, unschlüssig, ob ich mich mit einem Bittgebet an den Allerhöchsten wenden oder meinen Flüchen überlassen sollte.
In diesem Augenblick begann das Fliegende Schiff leicht zu zittern. Es folgte eine nächste Erschütterung, wie ein schwaches Rütteln, welches das wunderliche Fahrzeug in Vogelgestalt vom Schwanz bis zur Schnabelspitze erfasste. In der Gewissheit, es seien Simonis’ Bewegungen im Schiffsinneren, die diese Schwankungen hervorriefen, blickte ich auf. Doch der Grieche betastete gerade, ruhig sitzend, die Stühle, um zu kontrollieren, ob sie einen doppelten Boden besaßen. Wäre dies kein seelenloser Gegenstand gewesen, ich hätte nicht übel Lust gehabt, mir die Augen des Schiffes genauer anzusehen, um zu prüfen, ob sie sich bewegten. Dann tat ich es doch: Die beiden erloschenen hölzernen Augäpfel hatten jedoch den stumpfen Ausdruck jedes ausgestopften Vogels.
Auch ich ging an Bord. Kaum hatte ich das Schiff bestiegen, gewahrte ich wieder eine unerklärliche Vibration.
«Herr Meister, habt Ihr das gespürt?», fragte Simonis, als ich zu ihm in den Bug kam.
Ich antwortete nicht. Etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, etwas Ungewöhnliches. Ich spähte aus dem Inneren nach draußen: Der Boden war plötzlich … zu weit entfernt. Wenn ich jetzt wieder herausgesprungen wäre, hätte ich mir ein Bein gebrochen. War das möglich?
Statt der unbewegten Luft um mich spürte ich nun, wie meine Wangen den kalten Wind der Simmeringer Haide durchschnitten, als wären sie selbst zu kleinen, bebenden Schiffen geworden. Mich überkam eine tolle, unerklärliche Gewissheit: eine ungeheure Welle unterhalb des Fliegenden Schiffes, eine Art mächtiger Vulkan, der Pfeile in die Höhe spuckte, und wir waren direkt über ihm.
«Was geschieht hier, Simonis?», wandte ich mich endlich an ihn, dunkel ahnend, dass wir beide denselben irrwitzigen Gedanken hatten.
Nun überstürzte sich alles: der Eindruck eines kochenden Vulkans unter unseren Füßen; unsere Wangen, die sich anfühlten, als würden sie nach hinten gezerrt; der Boden, der sich senkte. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und ich dachte an den Traum, den ich vor einigen Tagen gehabt hatte, in dem ich fast von Mustafa gefressen worden wäre und in dem genau das geschah, was ich jetzt wehrlos erlebte: Das Fliegende Schiff erhob sich in die Luft.
Wie erkläre ich meinen Enkeln eines zukünftigen Tages jene Augenblicke? Und doch war ich mir einer Empfindung ganz sicher. Es war, als wollten die Naturgesetze unser Begehren nach dem Goldenen Apfel erfüllen, und ungeheure, uralte Kräfte, welche die
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