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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Körper zitterte. Hier oben war die Temperatur so eisig, als hätten wir einen hohen Berg bestiegen. Kräftige Windböen peitschten unsere Kaminkehrerhosen und mit ihnen das Schiff, das uns keinen Schutz bot. Von Zeit zu Zeit brachten die Windstöße das Gefährt zum Schwanken, und es knirschte.
    «Wie ist das nur möglich, Herr Meister? Was hält uns in der Luft?», fragte Simonis immer wieder, und ich antwortete ihm nur mit stummem Staunen.
    Dann, als die tolle Aufregung der ersten Minuten des Fluges sich gelegt hatte, bemerkten wir ein sonderbares Phänomen. Über unseren Köpfen ragten die vier Zugstangen auf, die ich bei meinem ersten Besuch des Fliegenden Schiffes entdeckt hatte. Die kostbaren Bernsteine, die daran hingen, hatten sich plötzlich verändert. Sie waren nicht mehr leblose Materie, sondern vibrierten, wie von einer unsichtbaren Kraft angetrieben. Ein feines Rauschen ertönte aus ihnen, es klang wie ein schüchternes Poem.
    Ich berührte einen der Steine, und augenblicklich hörte er auf zu vibrieren. Nach kurzer Zeit begann er wieder. Dann berührte ich die Stange mit dem Zeigefinger; sie war vollkommen reglos. Es war, als übertrüge sie eine unsichtbare Lebenskraft, die aus dem Heck des Fliegenden Schiffes kam und sich den Bernsteinstücken mitteilte, welche dann durch den starken Antrieb die himmlische Musik zirpten. War es diese Kraft, die das Schiff fliegen ließ? Und wenn ja, in welcher Weise? Welch ein sublimer Homo Faber und Musikus war hier am Werk gewesen? Er musste größer sein als der berühmte Leonardo, größer als Bernini und auch als Heron, der imstande gewesen war, die Türen eines Tempels zu öffnen, indem er ein Feuer an ganz anderer Stelle entzündete.
    Doch noch andere Einzelheiten schienen unerklärlich. Wie ich schon berichtete, bestand der Rumpf des Fliegenden Schiffes nicht aus schlichten Holzbalken mit ebener Oberfläche, sondern aus geschliffenen Röhren. Zusammen bildeten sie ein großes Bündel, dessen Enden am Heck die Schwanzspitze und am Bug den Kopf des Vogels formten, der als Galionsfigur diente. Nun, diese hölzernen Leitungen, die mir bei meiner Untersuchung des Fliegenden Schiffes leer und untätig erschienen waren, wurden jetzt offenbar von einem Luftzug durchströmt, einer Kraft, die wie jene der Bernsteine vom Schwanz unseres Fluggefáhrts zum Bug floss. Ob sie aus Luft oder einem anderen Fluidum bestand, war nicht zu erkennen: Aus den Röhren ertönte nur ein Brausen, ähnlich dem Geräusch, das man erzeugt, wenn man ein Blatt Papier zu einem Zylinder dreht und hineinbläst.
    Am Bug durchpflügte der hölzerne Raubvogelkopf rätselhaft und ungerührt den Himmel über Wien wie ein echter Vogel. Über den Zugstangen, welche die Bernsteinstücke trugen, knatterte das rundliche Segel, das unserem Schiff fast das Aussehen einer Kugel verlieh, fröhlich unter den Windstößen. Stolz zitterte am Heck die Fahne des Königreichs Portugal und schien Eile zu haben, zu unbekannten Zielen zu gelangen.
    «Warum?», fragte ich den alten Segler der Lüfte mit lauter Stimme, seine alten, ein wenig geschwärzten Balken betastend, «warum hast du nach so langer Zeit ausgerechnet diesen Tag gewählt? Warum mit uns an Bord?»
    Der Raubvogelkopf am Bug behielt unbeirrt seinen Kurs bei.
    «Vielleicht, Herr Meister, ich weiß nicht … aber …», brüllte Simonis im Versuch, den Lärm zu übertönen, der aus den Röhren kam.
    «Sprich!», forderte ich ihn so erschrocken wie verzagt auf, während das Fliegende Schiff in der Luft eine seltsame Kurve nach rechts beschrieb und scheinbar Anstalten machte, auf die Donauschleife zuzufliegen. Dann korrigierte es die Richtung nach links; einen Augenblick lang verloren wir das Gleichgewicht und mussten uns an den Sitzen festhalten. Mir schlug das Herz bis zum Hals.
    «Es ist, als hätte das Schiff sich erhoben, um uns einen Wunsch zu erfüllen.»
    «Ich wäre, ehrlich gesagt, lieber auf der Erde geblieben!», rief ich zurück.
    Das war teilweise gelogen: Unter dem Mantel der Furcht spürte ich die aberwitzige Begeisterung, einer der wenigen Menschen zu sein (und wer waren dann die anderen?), die jemals geflogen waren.
    «Ich meine einen anderen Wunsch!», schrie Simonis wieder. «Den Goldenen Apfel zu finden. Ist es nicht das, was wir uns wünschten, als das Schiff sich erhob?»
    Ich schwieg und senkte den Kopf, teils wegen des starken Windes, teils weil ich mich schämte, dass ich diesen so unvernünftigen Gedanken mit Simonis teilte, dem

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