Veritas
Ikarus:
Auf ihrer Flucht vor Minos benutzten sie Flügel aus Holz, denen sie mit Wachs Federn aufgeklebt hatten. Und wer entsinnt sich nicht der Legende von Simon Magus, der im antiken Rom vor den Augen Neros mit einer sehr plumpen Ausrüstung zu fliegen versuchte? Unglücklicherweise kam Ikarus der Sonne zu nahe und stürzte zur Erde, weil die Hitze das Wachs seiner Flügel schmelzen ließ. Und kaum hatte Simon Magus sich in die Luft erhoben, lag er schon zertrümmert am Boden.
In den dunklen Jahrhunderten des Mittelalters wurden die Versuche fortgesetzt. Ein gewisser Armen Firman baute in der spanischen Stadt Córdoba einen genialen Mechanismus in Gestalt eines Flügels, wofür er wenig mehr als seinen eigenen Mantel verwendete. Die Ausrüstung war vielleicht etwas zu rudimentär: Armen Firman sprang von einem Turm, stürzte in die Tiefe, brach sich etliche Knochen und kam durch ein Wunder mit dem Leben davon.
Doch das heilige Feuer der Anwärter auf die Fliegerei erlosch nicht. Ebenfalls in Córdoba entwarf wenige Jahre später ein gewisser Ibn Firnas, überaus gelehrt in der Chemie, Physik und Astronomie, eine fliegende Maschine, die mit einem menschlichen Wesen an Bord vom Boden abzuheben vermochte. Der Flieger, verständlicherweise ein großer Optimist, beschloss, die Feierlichkeiten für den Erfolg seines Experiments noch vor der Durchführung selbst zu organisieren, und bat alle Einwohner Córdobas, auf die Straße hinauszutreten, um dem Ereignis beizuwohnen. In bebender Erwartung füllten die Córdobaner jeden Winkel der Stadt und schauten geduldig, die Nasen in die Höhe gereckt, auf einen nahen Hügel, von dem sich Firnas am Steuer seines Fluggeräts tatsächlich anmutig in die Luft erhob. In den ersten Augenblicken wirkte der Gleitflug ruhig und sicher. Als Firnas aber zu Boden sank, verlor er die Kontrolle, und bei der Landung brach er sich übel das Rückgrat. Den Böswilligen, die Bemerkungen machten wie «Ich hab’s ja gewusst», «Das war doch klar», «Schon wieder ein Verrückter», entgegnete er, dass er in der Tat etwas vergessen habe: Vögel, die Beherrscher der Luft, haben alle einen Schwanz. Er versprach, unverzüglich dafür Sorge zu tragen. Leider blieb ihm keine Zeit mehr: Aufgrund seiner Verletzungen ging er alsbald ins ewige Leben ein.
«Was willst du denn nur mit all diesen Geschichten anfangen?», mischte sich Abbé Melani erneut ein.
«Wartet, Signor Atto, wartet», ging ich hastig über seine Frage hinweg, «erzähl weiter, Penicek.»
Auch das Osmanische Reich, fuhr Penicek fort, habe seit langem schon glänzende Erfolge auf dem Gebiete des Fliegens zu verzeichnen. Zum Beispiel gab es dort den berühmten und geachteten Lagari Hasan Çelebi, welcher sich als erster Mensch tollkühn in einer Rakete hatte in die Lüfte schießen lassen. Das Geschoss bestand aus einem geräumigen Käfig mit einem kegelförmigen Dach – zwecks leichterer Durchdringung des Äthers –, das randvoll mit Schießpulver gefüllt war. Das Experiment, während der Hochzeitsfeiern der Tochter des Sultans Murat IV. durchgeführt, war memorabel, überaus geräuschvoll und von größtem Effekt. Lagari Hasan Çelebi landete mit einem entsetzlichen Getöse auf den Wassern des Bosporus, was den größten Teil des Publikums fürchterlich erschreckte und zu einer ungeordneten Flucht zwang; der Pilot blieb durch ein Wunder am Leben. Sultan Murat IV. hingegen erschien die Landung sehr elegant, er lachte herzhaft, applaudierte Lagari Hasan Çelebi und belohnte ihn mit einem gutbezahlten Posten im osmanischen Heer. Der mutige Pionier hätte vielleicht noch weitere Gratifikationen erhalten, wenn der Sultan länger gelebt hätte. Allein, er starb kurz darauf, da er seit Jahren dem Alkohol ergeben war (was nach Meinung einiger erklärte, warum Murat IV und die vielen Untertanen, die dem Spektakel beigewohnt hatten, die Landung so unterschiedlich beurteilten).
Einige Jahrhunderte mussten vergehen, bevor jemand es erneut versuchte: Es war ein Mann aus der Toskana, ein gewisser Leonardo da Vinci, welcher mehrere zum Fliegen bestimmte Apparaturen entwarf.
«Leider hat sich keine seiner Maschinen je auch nur eine Handbreit vom Boden erhoben, und darum wird Leonardo im Gegensatz zu Lagari Hasan Çelebi, Ibn Firnas und Armen Firman in Vergessenheit geraten», urteilte Penicek.
Ebenfalls in der Toskana, in dem lieblichen Städtchen Aquilaia, erwarb sich zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts ein anderer, Leonardo da Vinci
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