Veritas
Tausendmal war es dem bösartigen Kastraten mit Lug und Trug gelungen, von mir zu bekommen, was er brauchte, und dann hatte er mir den Laufpass gegeben. Dieses Mal würde ich nicht auf ihn hereinfallen, seine Entschuldigungen würden mich weder rühren noch überzeugen.
«Junge, ich habe eine Mission zu erfüllen», hub er an.
«Das betrifft mich nicht. Es ist Eure Mission, nicht meine. Ihr habt mich für die Dienste entlohnt, die ich Euch in Rom leistete. Die Rechnung ist beglichen. Ich schulde Euch nichts mehr. Und ich habe nicht die Absicht, mich in politische Angelegenheiten einzumischen, die mich nichts angehen. Ihr seid Untertan des Allerchristlichsten Königs, ich bin Untertan des Kaisers. Mit Frankreich, dem Feind Österreichs, will ich nichts zu tun haben. Wenn ich etwas für Ihre Kaiserliche Majestät tun kann, werde ich es tun. Aber nicht im Verein mit Euch.»
«Du bist misstrauisch», antwortete er, «das habe ich schon längst begriffen. Aber siehst du denn nicht, dass ich dich brauche? Und das nicht nur, weil ich alt und blind bin und zu nichts mehr tauge. Mit deiner Hilfe sind mir früher die schwierigsten Missionen gelungen.»
«Natürlich», sagte ich mit einem sardonischen Lächeln, «aber nur dank der Lüge. Ihr lügt. Immer lügt Ihr. Jedes Mal habt Ihr nach Eurem Belieben gehandelt: Ihr hattet einen geheimen Plan und Euch fein gehütet, mir die Wahrheit zu sagen. Immer habt Ihr mich wie Euren Sklaven benutzt.»
«Das ist nicht wahr, ich hatte nie die Absicht, so etwas zu tun!», protestierte er lebhaft.
«Die Tatsachen sprechen jedoch eine andere Sprache, Signor Atto: Als wir einander kennenlernten, war ich noch ein Junge, und Ihr, mit Eurer unverschämten Zungenfertigkeit …»
«Willst du, dass mir wieder übel wird?», unterbrach mich Atto, der eine tragische Maske aufgesetzt hatte.
«Ach, hört doch auf mit diesem Pathos!», erwiderte ich zornig und erhob mich. «Seht lieber zu, dass Ihr beim nächsten Mal weniger Schokolade schluckt!»
«Jetzt spionierst du mir sogar hinterher?»
«Halt, ihr beiden!»
Es war Cloridias Stimme. Sie war keuchend zu uns gelaufen, ein Stück Papier in der Hand.
«Cloridia, halte dich bitte zurück. Der Abbé und ich …»
«Erst lies das hier!»
Sie öffnete das Blatt und reichte es mir. Es war ein sogenanntes Fliegendes Blatt, eine jener zweimal gefalteten Gazetten, die unregelmäßig erschienen und zu außergewöhnlichen Anlässen verfasst wurden. Ich las es in einem Zug und erbleichte bei der Lektüre.
Dann übersetzte ich es für Abbé Melani. Er suchte Halt an der Rückenlehne des Stuhls, als wäre ihm die Last der Jahre plötzlich unerträglich geworden.
Der Grand Dauphin, erstgeborener Sohn des Allerchristlichsten Königs, war schwerkrank. Das Fliegende Blatt sprach es nicht explizit aus, doch diese Krankheit konnte für ihn ebenso lebensbedrohlich sein wie für Joseph I.
Der Erbe des französischen Königsthrons hatte die Blattern.
Die ganze Welt stellte sich vor meinen Augen auf den Kopf. Eine geheimnisvolle Macht hatte bewirkt, dass die beiden Hauptgegner im Spanischen Erbfolgekrieg, Österreich und Frankreich, gleichzeitig von demselben tödlichen Übel befallen worden waren. Auf der einen Seite hatte es den jungen Herrscher und auf der anderen den Erben eines alten Königs befallen, welcher sicher nicht mehr lange zu leben hatte.
Man sprach von Blattern, doch war es unwichtig, welcher Name der Sache gegeben wurde: Eine tödliche Kralle hatte die wichtigsten Gegner im Krieg um Spanien in ihrem Griff. Oder konnte es ein Zufall sein, dass der österreichische Kaiser und der Erbe des französischen Throns gleichzeitig an einem Morbus mit identischen Symptomen erkrankten, und das mitten in einem furchtbaren Krieg, der ganz Europa erschütterte? Natürlich nicht. Jetzt war ich sicherer denn je, dass ein unheilvolles Gift in diesem Moment die langsame, heimtückische Aufgabe des Meuchelmörders erfüllte.
Doch welchen Part hatte Abbé Melani bei alldem?
Atto war nach Wien gekommen, um mit den Türken gegen den Kaiser zu konspirieren; nicht zufällig war er ja einen Tag nach dem Aga und der Erkrankung Josephs I. eingetroffen. Doch den Grand Dauphin von Frankreich konnte der Abbé gewiss nicht vergiften wollen: Mit fünfundachtzig wechselt man seinen Brotgeber nicht mehr.
Ich sah zu Atto hinüber, und als hätte er es gespürt, drehte er sich zu mir um. Es war nicht mehr das Gesicht eines alten Greises, was ich nun sah, sondern ein
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