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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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rechtzeitig, um zu sehen, wie er mit flinkem Schritt (wo war das lahme Bein geblieben?) die schwarze Kutsche erreichte, die uns zum Bürgerspital gefolgt war. Er gönnte uns einen letzten, gleichgültigen Blick, schloss den Wagenschlag und warf etwas aus dem Fenster. Dann verschwand er unter dem Hufgeklapper der Pferde. Wir hielten erst inne, als wir die Stelle erreicht hatten, wo die Kutsche losgefahren war. Am Boden erblickten wir, was Penicek eben fortgeworfen hatte: die kleine Brille, die ihm bis jetzt dazu gedient hatte, die Rolle des schüchternen, unbeholfenen Pennals zu spielen. Es war klar, dass wir ihn nie Wiedersehen würden.

    Wenige Minuten später waren wir wieder in demselben Schlafzimmer, in dem wir Penicek gefunden hatten. An der hinteren Wand befand sich eine Tür, die in den einzigen Raum führte, den wir noch nicht gesehen hatten, wahrscheinlich ein Kabinett. Der eisenhaltige Geruch, den ich bei unserem ersten Besuch wahrgenommen hatte, war nun stärker, fleischlicher geworden. Simonis stellte sich vor die Tür. Sie war abgeschlossen, es steckte kein Schlüssel. Nach einigen kräftigen Stößen mit der Schulter öffneten sich beide Flügel gleichzeitig, wie der Vorhang eines Theaters. Sie prallten von den Wänden zurück und schlossen sich hinter unserem Rücken. Jetzt waren wir zu dritt.

    Er sah aus wie eine Kreuzung zwischen Mensch und Käfer. Zwei lange schwarze Fühler ragten ihm aus dem Gesicht, Kopf und Oberkörper waren blutüberströmt. Kurz bevor er starb, war er auf den Stuhl gesunken, vor dem wir jetzt standen. Das Blut war von seinem Oberkörper bis auf den Boden geflossen.
    Jemand, der gewandt wie ein Messerwerfer sein musste, hatte ihm die beiden fehlenden Bratspieße aus der Küche in die Augen gebohrt, so plötzlich, dass er sich nicht mehr hatte wehren können. Dann hatte er ihn aufgeschlitzt. Die drei bestickten Mundtücher vom Küchentisch waren ihm so tief in den Rachen gestopft und mit einer zweifach um den Hals gewickelten Schnur im Mund versiegelt worden, dass er gewiss nicht hätte um Hilfe schreien können. Wer weiß, ob er verblutet (zehn oder zwanzig Messerstiche sind für jeden zu viel) oder erstickt war.
    Wir mussten uns beide übergeben.
    «Diesmal sind wir wirklich in Schwierigkeiten», hub ich an, als ich wieder sprechen konnte. «Man hat uns im Haus gesehen. Sie werden uns suchen.»
    «Das ist nicht gesagt. Das falsche Motiv für den Mord wird uns nützen», sagte Simonis kalt.
    «Was heißt das?»
    «Es wird wie eine Rache des Herrn Zwitkowitz oder wie ein Streit unter Studenten aussehen.»
    «Wegen eines Streites bohrt man seinem Mitmenschen keine Spieße in die Augen!»
    «Wegen einer Zwangsräumung schon.»
    «Nicht in Wien», erwiderte ich.
    «Hier leben Leute aus Halb-Asien, die es für viel weniger tun würden.»
    «Und Zwitkowitz’ Name klingt, als stamme er aus jener Gegend.»
    «Eben.»
    Wir gingen hinaus. Im Erdgeschoss war die Alte von vorhin nicht mehr zu sehen. Auf der Straße zitterten mir noch die Beine, aber die eiskalte Luft peitschte uns wohltuend ins Gesicht. Alles (die Häuser ringsum, der Himmel) stand mir klar vor Augen und wirkte gleichzeitig unendlich fern. Ohne ein Wort zu sprechen, gingen wir zum Kloster. Ich erwartete, dass Simonis mir etwas sagen würde, dass er mir eine Erklärung gab oder es wenigstens versuchte. Aber er schwieg. Wer auch immer er in Wirklichkeit war, das Entsetzen über den Mord an Opalinski hatte auch ihn überwältigt. Ich fühlte mich wie in ein anderes Universum katapultiert. Alles veränderte sich mit diesem verfluchten Spanischen Erbfolgekrieg, alles.
    Die Zeit des Menschen war beendet, es begann die lange Agonie der Welt: die Letzten Tage der Menschheit.

    «Er stand im Dienst der Mächtigen. Das sind Männer, die im Verborgenen arbeiten und imstande sind, alles in sein Gegenteil zu verkehren: Sie vertauschen den Mond mit der Sonne. Darum tauchten die Namen der Studenten in den Todesanzeigen der Gazette nicht auf.»
    Nachdem ich mehr tot als lebendig in Attos Zimmer gestürzt war, um ihm von den jüngsten Ereignissen zu berichten, hatte Atto Domenico unter einem Vorwand nach draußen geschickt. Der Abbé war neu gekleidet und offensichtlich wieder zum Handeln aufgelegt. Während er Peniceks Flucht kommentierte, hörte ich mit abwesendem Blick zu. Wir waren allein und konnten auch über meinen Gesellen sprechen.
    «Es ist kein Zufall», sagte er, «dass Simonis dir riet, den anderen Studenten nichts über den

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