Veritas
geringen Statur, der Abbé ob seines ehrwürdigen Alters). Bei der Finsternis, die alles umhüllte, war es zwecklos, eine Flucht über die Mauern des Neugebäus zu versuchen. Ich hatte einen raschen Ausfall in den Haupthof gewagt, um zu kontrollieren, ob sich das Tor öffnen ließ. Aber einige in meiner unmittelbaren Nähe abgegebene Schüsse hatten mich sofort bewogen, mein Versteck wieder aufzusuchen. Als ich, zurück im Stadion, am Fliegenden Schiff vorbeikam, hörte ich Abbé Melani ein Ave-Maria flüstern und um Rettung flehen.
Eine lange Weile verging, dann veränderte sich etwas. Mehrere Schüsse direkt hinter uns ließen mich zusammenschrecken: Der Schauplatz des Kampfes schien sich in den engen Gang verlagert zu haben, aus dem am Vortage Bübchen, der Elefant, und die anderen Bestien in das Stadion eingebrochen waren. Von dort aus gelangte man, das wusste ich, zu den Gräben der wilden Tiere.
Eine Zeitlang hörte ich nichts mehr. Ich wusste, dass Atto im Fliegenden Schiff ausharren würde, ohne einen einzigen Muskel zu rühren. Also stand ich auf und verließ das Ballspielhaus. Der Mond war mir gewogen, und auf dem Boden kriechend kam ich nahe genug, um die Szene zu erblicken. Ich hatte eine Befürchtung gehabt und fand sie leider bestätigt.
Bleich wie ein tragischer Pulcinella und schmerzverkrümmt (wie oft hatten sie ihn getroffen?), stand Simonis auf der kleinen Mauer zwischen den zwei Raubtiergräben und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Er glich einem Zirkusakrobaten, der plötzlich gewahr wird, dass er eine zu schwierige Übung gewählt hat und nicht weiß, wie er sich beim Publikum für seinen Irrtum entschuldigen soll. Zu seinen Füßen rechts und links der Mauer tobte eine brüllende Schar Raubkatzen. Das schwache Mondlicht mochte täuschen, doch ich meinte wirklich, aus den blutrünstigen Bestien in den Gräben den schwarzen Panther herauszuhören, den Simonis vor unserem zweiten Flug mit dem Luftschiff mit dem Besen bekämpft hatte.
Um seinen Gegnern zu entkommen, hatte sich mein heldenmütiger Gehilfe hinter das Ballspielhaus zurückgezogen und von dort in den Säulengang geschlichen, der entlang der Gräben verlief. Hier sollte sich jedoch der entscheidende Akt abspielen. Denn die Häscher Ciezebers hatten ihn eingekreist: An beiden Enden des Ganges hatte sich jeweils einer postiert. Um ihnen zu entgehen, hatte Simonis begonnen, wie ein Akrobat auf dem Seil über die Mauer zu balancieren, welche das Löwengehege von dem Zwinger anderer Raubtiere trennte. Er hatte gehofft, bis auf die gegenüberliegende Seite zu kommen.
Die Finsternis wurde vom Mondlicht nur teilweise erhellt. Ich erkannte die Lage sofort: Keiner hatte mehr Munition. Nun würde die zahlenmäßige Überlegenheit entscheiden, und Simonis war allein. Als er gleich einem Seiltänzer über die Mauer zwischen den beiden Tiergräben schwankte, hatte er wahrscheinlich gehofft, den Abgrund auf diesem Weg überwinden zu können. Doch er war in eine Sackgasse geraten: Am Ende der Mauer erwartete ihn eine lange Reihe eiserner Gitterstäbe, welche mögliche Stürze in die Gräben verhindern sollten.
Sich dem Schauplatz dieser Szene zu nähern, war unbesonnen gewesen: Wenn ich mich jetzt wieder entfernte, würden die Häscher des Derwischs mich sofort hören. Ich bemerkte, dass Ciezeber am Ende der Mauer stand, auf die Simonis sich todesmutig geschwungen hatte. Er beugte sich vor, als wolle er mit dem Flüchtenden sprechen. Ich konnte Simonis kaum erkennen, so dunkel war es, und glaubte, er würde mich keinesfalls erspähen. Doch plötzlich begriff ich, dass er mich gesehen hatte. Gerade in diesem Moment begann der Derwisch zu sprechen.
«Bleib stehen», befahl er Simonis mit trockener, strenger Stimme.
«Selbst wenn ich wollte, könnte ich wohl kaum anders», antwortete mein Gehilfe ironisch.
«Du bist verloren.»
«Ich weiß, Ciezeber.»
Der Derwisch holte kurz Luft, dann sagte er:
«Du kennst mich als Ciezeber, den Inder; andere nennen mich Palatino Caldeorum. Wieder andere Ammon. Aber mein Name ist mir gleichgültig. Ich bin einer, keiner, hunderttausend. Ich brauche nichts, ich suche niemanden, ich tue Gutes an Armen und Gefangenen. Ich sehe aus wie fünfundvierzig, aber ich bin achtundfünfzig Jahre lang gereist und neunzig Jahre alt. Ich kann mich verjüngen, meine Gesichtszüge ändern, meine Haut glätten, meine ausgefallenen Zähne nachwachsen lassen. Mein Reich ist überall. Ich bin über die Straßen der Türkei
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