Veritas
Jahrhundert von den Blattern dahingerafft, und die Habsburger hätten fast die Kaiserkrone verloren. Vielleicht wollt ihr auch jetzt …?»
«Leopold musste den protestantischen Fürsten viel Geld zahlen, um sich wählen zu lassen, und ihnen feierlich geloben, er werde den spanischen Habsburgern im Krieg gegen Frankreich nicht zu Hilfe kommen», lachte der Derwisch.
«Und außerdem war jener Ferdinand schon mit einundzwanzig Jahren zu tüchtig, zu gebildet, zu aufgeweckt», fuhr Simonis sarkastisch fort, «all das war zu viel für die Habsburger, die gerade wegen ihrer Schwäche und Gefügigkeit Kaiser sind. Kaum macht einer von ihnen Ärger, weg mit ihm! Der Nächste bitte. Und umso besser, wenn es ein Feigling ist wie Leopold.»
«Leopold hat mit seiner Milde fast ein halbes Jahrhundert lang regiert», erwiderte der Palatino unergründlich.
«Aber auch er hat euch einige Unannehmlichkeiten nicht erspart. Viel hat es euch nicht genützt, ihn an die Stelle seines Bruders zu setzen. Zwar ist er 1683 bei der Ankunft der Türken wie ein Dieb in der Nacht aus Wien geflohen. Doch die christlichen Armeen haben gleichwohl gesiegt. Trotz all euerer Bemühungen, Palatino, erfüllen sich eure Wünsche nie ganz. Das ist euer Schicksal.»
«Schweig!»
«Warum das alles?», fragte Simonis mit schneidender Stimme.
«Das ist die richtige Frage», antwortete der Derwisch. «Aber das wissen lediglich Leute wie du und ich. Das Warum . Das Wie und das Wer sind nur Ablenkungsmanöver für das Volk. Eines Tages wird vielleicht jemandem der Verdacht kommen, dass Joseph der Sieghafte ermordet worden ist, und er wird sich fragen: Wem hat das genützt? Wer hatte die Macht, das alles zu vertuschen? Waren es die Blattern oder Gift … Immer wie und wer . Wie in einem Spiel werden wir die Menschen mit diesen Fragen vollauf beschäftigen und verhindern, dass sie nach dem Wichtigsten fragen, nämlich dem Warum .»
«Dabei ist es nicht schwer zu erraten», sagte Simonis. «Zuvörderst der Krieg: Joseph gedenkt, Spanien mit den Franzosen zu teilen und seinem Bruder Karl nur Katalonien zu überlassen.»
Ich zuckte zusammen. Das stimmte mit dem überein, was Atto mir erzählt hatte: Der Kaiser wollte die Iberische Halbinsel aufteilen und hatte dem Bruder lediglich Barcelona mit der umgebenden Region zugedacht.
«So wird die spanische Frage geregelt», fuhr Simonis fort, «und der Frieden beginnt. Ihr aber wollt, dass der Krieg weitergeht, ihr wollt Europa endgültig in die Knie zwingen, um ihm einen Waffenstillstand zu euren Bedingungen zu diktieren und ungestört schalten und walten zu können.»
Ciezeber schwieg, als stimmte er zu.
«Dann ist da der Handel», setzte mein Gehilfe hinzu. «Der Krieg schadet den Geschäften, doch nur den kleinen. Unter euch aber gibt es Leute, die Waffen verkaufen, die Schiffe bauen, die Festungen entwerfen. Ihr bereichert euch gerade am Krieg. Und das bedeutet viel Geld. Im Frieden versiegt dieser Geldfluss.»
Ciezeber-Palatino antwortete mit einem belustigten Winseln.
«Zuletzt wollt ihr die gefährlichen Herrscher aus dem Weg räumen, um sie durch andere, gefügigere, zu ersetzen. Das ist eure immergleiche Strategie, doch jetzt habt ihr sie perfektioniert. Seit Jahrhunderten plagt ihr euch damit ab, die Welt zu verderben, indem ihr eine heilige Stadt nach der anderen erobert. Ihr habt die Ungläubigen benutzt, um Jerusalem zu erobern. Später seid ihr nach Norden vorgestoßen, bis ihr 1453 Konstantinopel und dann auch Budapest eingenommen habt. Jahrhunderte hat es gebraucht, um das alles zu erreichen: Riesige Geldsummen wurden verschwendet, Heere in den Tod geschickt, ganze Nationen vernichtet. Nur Wien hat euch widerstanden: Obwohl ihr die lutherische Kirchenspaltung aushecktet, durch die ihr Europa im Dreißigjährigen Krieg verfaulen ließet, wurden eure Osmanen bei der Belagerung von 1529 und dann der von 1683 besiegt. Wien war die letzte heilige Stadt vor Rom, dem Endziel. Also habt ihr eure Pläne ändern müssen. Statt die christlichen Reiche anzugreifen, konzentriert ihr euch jetzt auf Operationen im Inneren: die Könige direkt ausrotten. Dann bemächtigt ihr euch der Seelen und des Verstandes ihrer Söhne, indem ihr sie von euren Hoflehrern erziehen lasst: Folterknechte des Geistes, gedungen einzig, um den Charakter der jungen Prinzen zu zerstören und alle guten Eigenschaften in ihnen auszulöschen. Eine Praktik, die ihr seit Jahrhunderten erfolgreich anwendet: Hier im Reich musste schon
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