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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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und Persiens gezogen, ich bin Gast des Großmoguls in Siam, in Pegu, in Kandahar, in China gewesen. In der Tatarenwüste habe ich gelernt, Hunger zu ertragen, in Moskau habe ich vor Kälte gezittert, ich bin Pirat im Indischen Ozean gewesen. Durch ein Wunder habe ich sieben Schiffbrüche überlebt, achtmal hat man mich ins Gefängnis geworfen, sogar in jenes der römischen Inquisition. Immer kam ich dank mächtiger Beschützer frei, doch auch das Gefängnis ist mir gleichgültig. Aus einer puren Laune heraus habe ich einmal alle anderen Gefangenen befreit und bin selbst in der Zelle geblieben.»
    Simonis schwieg. Der Derwisch fuhr fort:
    «Ich war dreißig Jahre alt, als ich meine Heimat verließ. Damals nannten sie mich Isaak Ammon, ich war der erstgeborene Sohn Abraham Ammons, des Patriarchen der nestorianischen Christen von Chaldäa. Seit Generationen vererbt man sich in unserer Familie stolz die Patriarchenwürde weiter, doch mir galt sie nichts. Nur einen Mann bewunderte ich: den Bruder meiner Mutter, der sich in Chaldäa auf einen Berg zurückgezogen hatte. Er war wie du und ich: mehr als ein einfacher Mensch. Ein großer Weiser und Astrologe, der ein Eremitendasein führte und alle anderen Menschen wie Tiere behandelte. Er hat mich mit der Peitsche erzogen und mich die geheimen Vermögen der Kräuter und der Sterne gelehrt, ihre Verbindung mit Steinen, Tieren der Luft und des Wassers, Vierfüßlern und Reptilien. Er hat mich die Perioden gelehrt und die Stunden des Tages, ihr Temperament und ihre Wirkung auf den Menschen.»
    Simonis schwieg weiter. Ciezeber schien es nicht zu stören.
    «Du wirst denken: Warum bist du nicht still, Derwisch? Warum erzählst du mir das alles? Warum tötest du mich nicht und machst Schluss? Aber ich spreche nicht, um zu prahlen. Wer verliert, muss erkennen und leiden. Wir, die Sieger, nähren uns von eurem Schmerz, er ist uns Lymphe und Lebenssinn.»
    Dann fuhr Ciezeber (oder Palatino, wie er behauptete) befreiter fort, als hätte er nunmehr alles Wichtige gesagt.
    «Es war der Bruder meiner Mutter, der mich mit der wahren Weisheit erleuchtete. Sie ist nichts, wenn man sie besitzt, und alles, wenn man sie nicht besitzt. Mit ihrer Hilfe kann ein gesunder, ehrbarer Mann tausend Jahre leben, wie zu Zeiten Abrahams und Noahs. Es genügt, dass er sich von Frauen und Exzessen fernhält. Mein Meister, mein Onkel, war siebenhundert Jahre alt.»
    Ich hörte die Rede eines Wahnsinnigen, und Simonis schien ebenso zu denken:
    «Dann wird er einiges zu erzählen gehabt haben», sagte mein Geselle sarkastisch. «Wahrscheinlich hat er dir gesagt, welches Gift auf den Teller des Kaisers zu tun ist.»
    Der Derwisch nahm die Ironie nicht wahr.
    «Was weißt du schon von Giften?», antwortete er ungerührt. «Es gibt zweiundsiebzig verschiedene Arten, und die feinsten nimmt man nicht einmal durch den Mund ein. Ein Paar Schuhe, ein Gewand, eine Perücke, eine Blume, ein Zelt, eine Tür, ein Skalpell, ein Brief: Unzählige Dinge können vergiften. Freilich gibt es für alle in der Natur ein Gegengift. Einige wirken nur zu gewissen Stunden oder an bestimmten Tagen, in manchen Wochen oder Monaten; doch alle sind sie unfehlbar. Man muss nur Rang und Temperament der Person kennen, die vergiftet werden soll. Was Joseph betrifft, so glaubst du, es handle sich um Gift und nicht um Krankheit. Nun, die Krankheit ist Gift, und das Gift ist Krankheit. Sie sind keine Alternativen, sondern ein und dasselbe: ein Morbus, der auf medizinischem Wege ausgelöst wird. Die Blattern sind kunstgerecht in die jungen Glieder des Kaisers injiziert worden, ebenso in jene des Grand Dauphins von Frankreich, natürlich mit Hilfe von Verrätern, die es unter euch Christen immer gibt. Bei beiden wird es wie ein natürlicher Tod erscheinen.»
    Ich hielt den Atem an: Jetzt hatten wir die Antwort auf unsere Fragen. Die Blattern, die Ihre Kaiserliche Majestät und den Erben Ludwigs XIV befallen hatten, waren zwar eine Krankheit, aber künstlich mit Gift erzeugt worden!
    Ugonio hatte mir sogar gesagt, dass die Instrumente, die Ciezeber bei seinen Ritualen benutzte, dem Inokulieren dienten, doch ich hatte die wahre Bedeutung von «Morbiditätszwecken» nicht verstanden und geglaubt, die Geräte hätten eine heilende, keine verbrecherische Bestimmung.
    «Für euch ist das die ideale Lösung», bemerkte Simonis. «Niemand wird Verdacht schöpfen. Schon Ferdinand, der ältere Bruder des letzten Kaisers Leopold I., wurde vor einem halben

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